Nordlichter
Kopf
Der größte Massenselbstmord in Deutschlands Geschichte
Er ereignete sich in keiner der großen Städte sondern ausgerechnet in dem kleinen Provinznest Demmin in Vorpommern. Die Bürger der Stadt hätten liebend gern auf diesen zweifelhaften Ruhm verzichtet, aber Ende April 1945 hatte die Kriegsfront Demmin erreicht.

Das war vor fast 60 Jahren, anscheinend zu lange her. Inzwischen werden Kriege wieder salonfähig. Deutschland wird am Hindukusch verteidigt, fast wie bei Kaiser Wilhelm. Das Grundgesetz wird ausgehöhlt, und alle empfinden das als normal. Die Bundeswehr wird von einer Verteidigungsarmee zur Eingreiftruppe umgewandelt. Die Deutschen leiden unter kollektivem Gedächtnisschwund. Nach 1945 hieß es noch, nie wieder Krieg. Entsinnt sich daran überhaupt noch irgendjemand? Es ist an der Zeit sich zu erinnern, was Kriege anrichten können.

Meine Geburtsstadt ist nicht Demmin, und so erfuhr ich erst nach der Wende von einer Zeitzeugin, was sich 1945 in Demmin ereignet hatte. Zu DDR-Zeiten wurde darüber kein Wort verloren. Meine ehemalige Arbeitskollegin Frau S., inzwischen Rentnerin in Altentreptow, erzählte, wie sie als kleines Mädchen diese Zeit erlebt hatte. Sie war mit Mutter und Schwester als Flüchtlinge aus Stettin in Demmin gestrandet. Ich habe mit dem Demminer Chronisten Karl Schlösser einen weiteren Zeugen, der dieses Ereignis als Kind erlebte und in seiner lesenswerten Broschüre "Demmin - die andere Chronik" beschreibt. Die Landeszentrale für politische Bildung Mecklenburg-Vorpommern hat ein kleines Büchlein mit Berichten und Erinnerungen herausgegeben "Das Kriegsende in Demmin 1945".

Frau S. schilderte zu meinem Entsetzen und dem meiner Arbeitskolleginnen, wie Mütter ihre Kinder und sich selbst töteten, bevor die Sowjetarmee in Demmin eintraf. Auch ihre Mutter wurde aufgefordert, es den anderen gleichzutun. Die bewahrte aber kühles Blut und entgegnete, das könne sie immer noch tun. Frau S. berichtete von dem Fall einer Mutter, die zwar die Kraft hatte ihre beiden Kinder zu ertränken, aber nicht sich selbst. Diese Mutter erklärte, ihre toten Söhne sähen wie kleine Engel aus. Wir wollten von Frau S. wissen, warum diese Morde und Selbstmorde bevor die feindliche Armee einfiel? Sie erklärte uns, dass der Grund die nationalsozialistische Propaganda gewesen wäre.

Frau S. berichtete das Haus, in dem sich ihre Familie mit anderen aufhielt, wurde von einem einzelnen sowjetischen Soldaten durchsucht. Er nahm ihnen Uhren und andere Wertgegenstände ab. Dann wollte er eines der Mädchen vergewaltigen. Der Mutter gelang es aber, mit ihm zu verhandeln. Der Soldat meinte daraufhin, wenn nicht die Tochter, dann müsse die Mutter ran. Zum Glück für die Frauen tauchte alsdann ein sowjetischer Offizier auf. Der nahm den Möchtegernvergewaltiger mit. Den Frauen ist nichts weiter passiert. Solch ein Glück hatten die meisten anderen Frauen nicht.

Karl Schlösser berichtete, dass seine Mutter im Nebenzimmer vergewaltigt wurde, während die anderen zitternd zusammenstanden. Als sie aus dem brennenden Demmin flohen, wollte sich seine Mutter das Leben nehmen. Der Großvater verhinderte es, er nahm ihr die Rasierklinge weg. Viele andere hatten keinen tatkräftigen Opa dabei.

Inzwischen hat sich auch das Fernsehen des Themas Massenselbstmord in Demmin angenommen. Ich habe die Sendung allerdings nicht gesehen. Auch die Wikipedia berichtet auf ihrer Demminseite.

Sowohl Wikipedia als auch der MDR geben als Auslöser für die Plünderungen, Brandstiftungen und Massenvergewaltigungen den angeblichen Mord an sowjetischen Offizieren durch einen Demminer Apotheker mittels vergiftetem Wein an. Für die Mär vom giftmörderischen Pharmazieexperten fehlt allerdings jeder Beweis. Alle anderen Zeugen bezeichnen diesen angeblichen Vorfall als Legende.

Zeitzeuge Schlösser bemerkt dazu:
Sie müssen zugeben, das klingt wie eine Mär, aus der Operetten gemacht werden. Aber daran glauben viele alte Demminer bis auf den heutigen Tag.
So entstehen Legenden, die sich immer gegen alle Vernunft behaupten. Oder halten Sie es für möglich, daß sich sowjetische Offiziere inmitten der Front - denn Demmin war zur Zeit Frontlinie - von einem unbekannten Deutschen, dem Gegner also, einladen lassen, um mit ihm bedenkenlos zu trinken? Möglich ist durchaus, daß marodierende, angetrunkene Soldaten in der Apotheke alles tranken, was nach Alkohol roch - vielleicht auch zu fällig Gift.
Meine ehemalige Arbeitskollegin Frau S., Herr Schlösser selber und auch die Berichte von der LpB Mecklenburg-Vorpommern schildern vielmehr, dass deutsche Soldaten und Nazis aus Demmin die Brücken hinter sich in die Luft gesprengt hätten. Das Ergebnis sei ein Stau der einrückenden sowjetischen Panzerverbände gewesen. Trotz der weißen Fahne von der Bartholomäuskirche und weißer Tücher an einigen Häusern schossen Jugendliche und erwachsene Fanatiker auf sowjetische Soldaten. Die Stadt wurde daraufhin drei Tage zur Plünderung freigegeben.

Das Ergebnis ist bekannt. Demmins Altstadt mit ihren Fachwerkhäusern brannte. Erst am dritten Tag durfte gelöscht werden, da gab es schon lange nichts mehr zu retten. Neben den Plünderungen kam es zu Massenvergewaltigungen und in deren Folge zu Massenselbstmord. Frau S. erzählte, das Schlimmste, was sie in diesen Tagen sah, waren die vielen Leichen, die auf den Flüssen trieben. Insgesamt wurde die Zahl der Umgekommenen auf 800 bis weit über 1000 angegeben. Die genaue Anzahl der Toten kennt niemand. Herr Schlösser zitiert in seinem Buch Karin Bloth, die dieses Grauen miterlebte:
Viele Menschen hatten in diesen Schreckenstagen keinen anderen Ausweg aus Entsetzen und Verzweiflung gewußt als den freiwilligen Tod. Darunter waren Namenlose, die zu einem Flüchtlingstreck aus dem Osten Deutschlands gehörten, der auf dem Weg nach Westen in unsere Stadt in das Inferno geriet.
Ich wurde Augenzeuge, als auf dem Friedhof die Massengräber gefüllt wurden mit ihren Leichen, umwickelt mit Packpapier. Lastwagenladungen voll.
Ich hasse den Krieg, der sinnlos zerstört und noch die Davongekommenen lebenslang zeichnet.
Wäre dieses Inferno zu verhindern gewesen? Vielleicht, denn durch die Nachbarstädte Jarmen, Loitz und Dargun fuhren die Panzer der Sowjetarmee ungehindert. Ein Schicksal wie in Demmin blieb den Bewohnern dieser kleinen Städten erspart.

Zum Schluss noch einmal Karl Schlösser:
In einigen Zeitungsberichten und Fernsehreportagen anläßlich der 50. Wiederkehr der Zerstörung Demmins lamentiert man über die besondere, außergewöhnliche Brutalität des Feindes.
Ja, ich frage Sie, was hatten die Demminer erwartet? Eine Extrabehandlung mit Glacéhandschuhen? Glaubten sie, sie könnten auf Verschonung rechnen, obwohl sie nach Hissung der weißen Fahne hinterrücks auf sowjetische Soldaten schossen?
In Demmin, sag ich Ihnen, passierte nichts Außerordentliches: Es fand Krieg statt, der bis zu seinem bitteren Ende erbarmungslos die Wehrlosen, die Unschuldigen traf wie millionenfach zuvor.