Nordlichter
Kopf
Abgang
Im Krankenhaus waren alle Tage gleich, sie ließen sich schlecht unterscheiden. Es war immer der gleiche Ablauf von Wecken, Waschen, Visite, Frühstück, Mittag, Mittagsruhe, Kaffee, Visite, Abendbrot, Duschen für Dr. ... und Nachtruhe. Nur wenig störte die Routine. Zum Beispiel, wenn die Mitpatienten Besuch bekamen, oder wenn die Schwesternschülerinnen ihre Hilfe anboten. Im Gegensatz zur Station in Demmin, bei der nur eine Schülerin die Schwestern unterstützte, gab es hier in Greifswald gleich eine ganze Schar. Sie boten, wenn Zeit war, den Patientinnen an, ihnen die Füße zu waschen oder die Haare. Beides war recht angenehm. Freiheit für meine Füße. Die freuten sich für kurze Zeit dem engen Cancanstrumpfgefängnis zu entrinnen. Durch das Liegen im Bett hatten hier alle Frauen über kurz oder lang die gleiche Irokesenfrisur. Bei mir kam noch hinzu, dass ich am Kopf am meisten schwitze. Nachts schwitzte ich sehr viel, obwohl wir die Heizung abgedreht hatten. Eines morgens sah ich so katastrophal aus, dass die Schwesternschülerin als erstes „Guten Morgen!“ sagte und als zweites „Kopfwaschen“. Sie wusch ihn mir überm Waschbecken und fönte mir auch anschließend die Haare. Die standen dann in alle Richtungen, sodass ich aussah wie der Struwwelpeter höchstpersönlich. Meine Mitpatientin bot mir ihren Fönstab an. Ich lehnte dankend ab, ich hielt meine Struwwelpeterfrisur für durchaus krankenhaustauglich.

Im Krankenhaus waren alle Tage gleich, und ich träumte so still vor mich hin. Meine Nachbarin hatte mir erzählt, dass wir im Sommer endlich verglaste Balkons erhalten sollten. Ich bin mir noch nicht im Klaren, wie ich dies zusätzliche Zimmer künftig nutzen werde. Stelle ich einen großen Esstisch hinein oder eine Recamiere? Auf alle Fälle wollte ich dort für meine Arbeitskollegen, die mir während meiner Erkrankung zur Seite standen, ein Abendessen geben. Ich war gerade bei der Menüliste angelangt, als der Stationsarzt das Zimmer betrat.

Er teilte mir mit, dass wegen der Lebermetastase eine zweite Chemo nötig wird. Damit waren mit einem Schlag alle meine Pläne zunichte. Ich hatte fest damit gerechnet noch in diesem Jahr wieder arbeiten zu können. Mein große Geburtstagsfete im Sommer fällt auch ins Wasser. Schöner Schiet. Immerhin weiß ich, was mich erwartet. Meine Nägel werden brüchig werden, die Haare werden vermehrt ausfallen, und meine Haut wird sich wieder in die einer alten Schildkröte verwandeln. Die gravierendsten Nebenwirkungen werden Übelkeit und Erbrechen sein. Da ich in einem DDR-Plattenbau wohne, werden auch die Nachbar wieder etwas davon haben, wenn ich mit dem Kopf über der Schüssel hänge, und es mich würgt. Selbst, wenn ich dann nichts mehr im Magen habe. Dieses Gewürge ist das schlimmste! Aber sehen wir die ganze Sache mal positiv. Eine Bestrahlung ist nicht erforderlich. Deren Auswirkungen waren viel prekärer.

Der Stationsarzt erzählte mir drei Tage hintereinander, dass er mit mir ein Gespräch wegen der Nachsorge führen würde. Dann hatte irgendjemand offensichtlich anders entschieden. Bei der Visite am vierten Tag meinte er nur noch, Greifswald würde eine Chemotherapie empfehlen, die Entscheidung aber Demmin überlassen, und stürzte mich damit in Panik. Was denn nun? Ist die Chemotherapie nun notwendig oder nicht? Was ist, wenn man sich in Demmin anders entscheidet als in Greifswald? Für mich war das ganze ein haltloser Zustand. Ich wusste also nicht, woran ich war, Chemotherapie ja oder nein, und das einen Tag, bevor ich mich nach Hause verabschieden sollte. Die Tochter meiner Mitpatientin vertrat die Ansicht, es wäre unverantwortlich mich so aus dem Krankenhaus zu entlassen. Sie riet mir, nicht noch einen Tag abzuwarten, sondern gleich im Demminer Krankenhaus anzurufen. Was ich auch tat. Die Onkologie in Demmin war einer der Rettungsanker während meiner Erkrankung gewesen. Als ich die vertraute Stimme der Schwester hörte, ging es mir schon gleich viel besser. Ich bekam einen Termin für den folgenden Montag.

Inzwischen wurde meine Mitpatientin von ihrer Familie abgeholt. Sie verabschiedete sich von mir nicht ohne mich zu umärmeln. Falls bei mir eine Chemotherapie fällig wird, so haben wir alle Chancen uns bei der Reha in der Kurklinik wiederzusehen.

Ein Einzelzimmer hatte ich aber nur bis zum Abend, dann kam eine neue Patientin ins Zimmer. Sie hatte auch Darmkrebs so wie ich und ebenfalls ein Stoma gehabt, wenn auch nur für sehr kurze Zeit. Sie zeigte mir ihre Narbe, und so weiß ich ungefähr, wie meine einmal aussehen wird, wenn alles verheilt ist. Ihr war der Port, da er unwirksam war, entfernt worden. Dabei war festgestellt worden, ein kleines Teil hatte sich vom Port gelöst und war mit dem Blut gewandert. Jetzt lag es unterhalb der Brust. Was nicht alles passieren kann, da wird einem bange. Hier in Greifswald sollte ihr das Teil entfernt werden. Sie hoffte, in drei Tagen wieder zu Hause zu sein. Die Eingangsuntersuchung am nächsten Tag nahm auch wieder das gleiche Studentenpärchen wie bei mir vor. Die Patientin stammte von der Insel Rügen. Als der Student daraufhin „in Rügen“ von sich gab, wurde er von seiner Kommilitonin scharf verbessert „Auf Rügen. Wir leben nicht mehr in Erdlöchern.“ Ich musste lachen und gab ihr die volle Punktzahl. Zur Ehrenrettung ihres Kommilitonen sagte die Studentin, er wäre lernfähig.

Ich harrte der Dinge, die da kamen. Die Schwester erschien und übergab mir den Brief an meinen Hausarzt. Ich war immer noch im Nachthemd und wollte wissen, ob mir bald jemand die Klammern ziehen würde. Die Schwester verneinte, die Klammern würden mir beim Hausarzt entfernt. Schön, dass mir das auch einer sagt, am Tag vorher bei der Visite klang das noch ganz anders. Der Brief nur für meinen Hausarzt war mir natürlich nicht genug. Also stapfte ich zum Stationsarzt ins Schwesternzimmer und verlangte ein Schreiben für meinen Onkologen. Der Stationsarzt behauptete, es sei ihm nicht gelungen, den Namen meines Arztes ins Programm einzufügen. Was soll daran so schwierig sein? Er druckte mir den Brief an den Hausarzt einfach noch einmal aus. Aber mein Doktor würde ja in dem Schreiben erwähnt. Zum Beweis hielt er mir den Brief unter die Nase. Ich hatte keine Brille auf und hätte gut einen Blindenhund gebrauchen können. Meine Augen zusammenkneifend konnte ich mit Mühe und Not den Namen meines Onkologen entziffern. Das auch nur, weil der Doktor mit dem Finger darauf zeigte. Nun, mit Brille wäre das nicht passiert. Den Brief hatte ich jetzt, die Studenten waren fort, und ich konnte endlich meinen Abgang vorbereiten. Meine Mitpatientin half mir aus den grässlich engen Cancanstrümpfen. Wie beim letzten Mal holte mich auch dieses Mal mein Vater ab. Ich hoffe, ich muss nie wieder in ein Krankenhaus!