Nordlichter
Kopf
Mittwoch, 22. März 2006
Gespräche
Die Schwester fragte mich, ob ich in ein Zweierzimmer umziehen wollte. Natürlich wollte ich. Also wurde mein Bett samt Nachttisch rübergeschoben. Meine neue Mitpatientin war Lehrerin. Ihr war an der Bauchspeicheldrüse ein Krebs entfernt worden. Bei dieser Art von Krebs wird im Anschluss an die OP keine Chemotherapie fällig. Im Krankenhaus wird im Rahmen einer Studie geprüft, wie zwei bekannte Krebsmittel bei Krebs an der Bauchspeicheldrüse wirken. Eines der Mittel kannte ich gut, ich hatte es während meiner Chemo verabreicht bekommen. Meine Mitpatientin hatte die Chance an dieser Studie teilzunehmen und nahm sie auch war. An ihrer Stelle hätte ich mich ebenso entschieden, zumal sie durch eine Patientenversicherung während der Studie abgesichert ist. Das Mittel wird ihr per Los zugeteilt. Falls es mein Krebsmedikament sein sollte, wird sie auch einen Port bekommen. Bei dem anderen Medikament ist das nicht nötig. So gut es ging, versuchte ich, sie zu beruhigen und ihr die Angst vor der Chemo und dem Port zu nehmen. Ich erklärte ihr, dass diese Krebsmedikamente bei jedem anders wirken. Sie muss deshalb nicht die gleichen Nebenwirkungen wie ich haben. Bei mir waren es Übelkeit und Erbrechen, bei anderen Patienten Durchfall.

Wer meint, man könne sich in einem Krankenhaus erholen, hat keine Ahnung. Ich schlief sehr schlecht wegen der vielen fremden Geräusche, und weil mein wiedererwachter Dickdarm mich zu schnellen Sprints über den Krankenhausflur trieb. Gewöhnlich kam ich auf weniger als 5 Stunden Schlaf pro Nacht. Am Tag war auch keine Gelegenheit, den versäumten Nachtschlaf nachzuholen. Irgendwer kam immer ins Zimmer, wenn ich gerade eingenickt war. Die Schwesternschülerin wollte Temperatur, Blutdruck und Puls messen, oder der Vampir vom Dienst wollte Blut sehen. Nach dem Mittagessen, wenn dann endlich Ruhe einzog, hätte ich herrlich schlafen können. Aber gerade dann klopfte die Mitarbeiterin der Cateringfirma an die Tür. Ich hätte die Dame erwürgen können.

Der Stationsarzt hingegen erheiterte uns durch seine Aufforderung zu duschen an meine Mitpatientin bei mindestens jeder zweiten Visite. Dabei litt sie in Duschkabinen unter Platzangst und war so wie ich ein Badewannenfan. Wir wuschen uns weiter im Waschbecken. Eines Tages duschte sie dann doch bei geöffneter Kabine, wenn auch nur die Füße. "Bei der Olympiade hieß es, siegen für Deutschland. Hier heißt es, duschen für Dr. ...", kommentierte ich die Angelegenheit.

Mein Zimmergenossin und ich, wir verstanden uns sehr gut, und vetrauten uns gegenseitig unsere Ängste und Nöte an. Ich lernte auch ihre Familie kennen, den Mann, die Tochter und die kleine Enkelin, die sich vor mich stellte und die Ärmchen hochstreckte. Ich hob den Winzling hoch ohne an meine Operationsnarbe zu denken. Sie war so, wie meine beiden Neffen in dem Alter waren, und hatte auch keine Angst vor fremden Personen. Ich berichtete der Familie von meiner immerhin schon über 8 Monate dauernden Erkrankung, der Darm-OP, dem künstlichen Ausgang, der Bestrahlung, der Chemo und den anderen Operationen.

Mein Beutelchen interessierte die Tochter besonders. Sie wollte wissen, wie eine Liebesbeziehung funktionieren kann, wenn einer der beiden Partner ein Stoma hat. Aus eigenem Erleben konnte ich nichts zu diesem Thema beisteuern. Seit meiner Erkrankung lebe ich auch in dieser Hinsicht abstinent. Ich könnte problemlos einem Konvent beitreten, wenn sie denn da Atheisten aufnehmen würden. Besonders während der Bestrahlung hatte ich das Gefühl zum Neutrum zu mutieren. Auch bei der Chemotherapie ist man da nicht besser dran, wenn man auf die Frage "Liebst du mich?" statt zu antworten, sich erst einmal übergeben müsste. Eine Beziehung, in der es vor der Erkrankung gekriselt hat, wird ein Stoma wohl kaum überstehen. Die Krankenhausärzte verschweigen das Thema Stoma und Sex dezent. Die andere Frage wäre, ob ich denn genug Vertrauen hätte, mit ihnen darüber zu reden, wohl kaum, dann schon eher mit meinem Hausarzt oder Gynäkologen. Aus Gesprächen mit anderen Patientinnen weiß ich, dass ein Stoma das Ende der sexuellen aber nicht das Ende der Beziehung insgesamt bedeuten kann. Die meisten meiner neuen Bekannten aus dem Stoma-Forum leben dessen ungeachtet erfreulicherweise in einer stabilen Liebesbeziehung. Wobei der jeweilige Partner wesentlich daran beteiligt ist, das Problem Stoma im alltäglichen Leben zu meistern. Es erleichtert die Sache natürlich beträchtlich, wenn man jemand hat, der einem zur Seite steht, wie bei allem anderen im Leben auch, und der einen so annimmt, wie man ist. Aber denjenigen muss man erst einmal finden.

Christian hatte mir ja in einem Kommentar über seine Schwierigkeiten damit berichtet. Im Forum schilderte eine Teilnehmerin, sie hätte ihr Stoma durch eine Darmerkrankung schon im Teenalter bekommen. Ein Arzt sagte ihr, sie würde nie eine eigene Familie haben können. Solche Ärzte sollten nicht einmal Kühe behandeln dürfen, geschweige denn Menschen! Wie kann man jemand von vornherein jegliche Hoffnung nehmen? Inzwischen ist sie verheiratet. Für ihren Mann ist das Stoma einfach ein Teil von ihr. Diese Geschichte lässt doch hoffen. Der erste Schritt in eine Partnerschaft wäre sich selbst so zu akzeptieren, wie man ist, und nicht mit dem Schicksal zu hadern. Für mich gehörte dazu, auch über mein Stoma zu sprechen. Wem ich von meinem Krebs erzählt habe, der wußte auch, dass ich ein Beutelchen hatte. Ich sah nicht den geringsten Grund mich zu schämen, weil ich ein Känguruh war. Mein Selbstbewußtsein hat dadurch nicht gelitten. Man muss wegen des Stomas auf nichts verzichten. Unabhängig davon, dass uns die Medien tagtäglich sugerieren wollen, glücklich wäre nur, wer jung, schön, gesund und schlank ist. Es gibt genug Leute, die sich dem Druck beugen. Warum sonst hätten Schönheitschirurgen so viel zu tun? Für mich wäre das nichts, ganz abgesehen davon, dass ich von Operationen ein für alle mal genug habe. Zu meinen Falten stehe ich. Ich habe sie mir, bis auf die über der Nasenwurzel, ehrlich mit Lachen erworben. An mein Gesicht oder sonstige Körperteile kommt mir kein Botox oder Silikon, und die Falten glattziehen, lasse ich mir auch nicht. Hier im Krankenhaus habe ich zur Gesichtspflege nur Wasser und Creme verwendet. Das muss reichen.

Altern ist schließlich ein natürlicher Prozeß und keine Krankheit. Leider beginnt er schon nach dem 25. Lebensjahr. Panta rhei, Leben ist Veränderung. Einer meiner Onkel behauptete immer, mit 35 Jahren gehen die Generalreparaturen los. In seinem eigenen Fall kann ich das durch historische Beobachtungen belegen. Der Anfang war ein Köpper im knietiefen Wasser. Aua. Seitdem ging es mit ihm steil bergab. Viele wünschen sich, sie könnten noch mal 20 sein, ich nicht. Es ist gut so, wie es ist. Das Älterwerden bringt durchaus einige Vorteile. Aus dem Konkurrenzkampf kann ich mich gelassen ausschalten. Ich trete nicht in den Wettbewerb mit Frauen, die halb so alt sind wie ich. Die jungen Frauen stehen unter ganz schönem Druck, die Erwartungen zu erfüllen, die andere an sie stellen, Werte zu bedienen, die nicht ihre eigenen sind. Die Kraft sich davon freizumachen, haben die wenigsten. Ich bin jetzt in einem Alter, das in der Werbung nicht mehr vorkommt, für Gesichtscreme und Duftwässerchen zu alt, für Haftcreme und Kürbiskerne zu jung. Es gibt Frauen, die sind durch die Jagd nach der verlorenen Jugend so vergrämt und angespannt, dass sie davon ganz alt aussehen. Ich will lieber verfaltet und fröhlich sein als glatt und verbissen.

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