Nordlichter
Kopf
Sonntag, 28. Mai 2006
Der falsche Planet
Bei Quarks & Co gab es eine Sendung zum Thema Autismus. Über dieselbe Angelegenheit hatte ich vor längerer Zeit einen Artikel bei Telepolis gelesen. Dort gab es auch einen Link auf einen Autismustest, allerdings in Englisch. Bei Quarks & Co war der Test auf Deutsch. Ich habe mich spaßenshalber daran beteiligt. Das Resultat: Ich zeige autistische Tendenzen, die über dem Durchschnitt liegen. Besonders drollig fand ich den Hinweis, das wäre nicht behandlungsbedürftig, aber wenn ich Schwierigkeiten hätte, sollte ich einen Arzt aufsuchen. Immerhin habe ich laut dem Telepolisartikel als gelernter Diplomingenieur und im EDV-Bereich Tätige die richtige Ausbildung und den richtigen Beruf. Na, das beruhigt mich jetzt aber ungemein.

Damit keine Missverständnisse aufkommen, autistische Tendenzen heißt nicht automatisch auch Autist zu sein. Im Gegensatz zu ihnen kann ich sehr wohl Mimik richtig zuordnen. Ich kann mich auch in die Gedanken und Gefühle anderer hineinversetzen. Aber ich habe nach wie vor Schwierigkeiten mir Gesichter und Namen zu merken. Für eine Frau ist das ja immerhin ungewöhnlich. Im Krankenhaus hatte ich das Dilemma nicht, denn die Ärzte und Schwestern tragen Namensschildchen. An den Betten der Patienten sind auch welche, sehr hilfreich für mich. Einer Karriere als IT-Verkäuferin nach der Wende stand nicht nur jenes Handikap im Wege, sondern auch mein offensichtliches Unvermögen Dinge zu verscherbeln, von denen ich nicht überzeugt war. Keine Probleme habe ich bei Telefonnummern oder Passwörtern, je sinnloser umso einfacher. Ich benutze auch nie dieselben.

Mein Koordinationsvermögen kann man nur mit ungenügend bezeichnen. Im Schulsport gab ich beim Turnen den sterbenden Schwan, während ich beim Handball ein As war. Ich konnte das, was die meisten Mädchen nicht konnten, nämlich einen Ball scharf werfen. Meine Fähigkeiten zu tanzen sind legendär. Sie gehen soweit, dass ich meinen Tanzpartnern graziös auf die Füße hüpfe. Im Teenageralter war das schon ein gravierender Nachteil.

Zwar liebe ich es für Freunde zu kochen und mit ihnen zu diskutieren, aber für Smalltalk bin ich immer noch hervorragend unbegabt. Als Partygänger wäre ich gänzlich ungeeignet. In der Schreibe bin ich besser als beim Reden. Es sei denn, dass mich ein Thema richtig interessiert. Aber in meiner Begeisterung erkenne ich dann meist nicht, wenn sich der Gesprächspartner langweilt. Meine Abneigung gegen Telefonate habe ich mir inzwischen wegtrainiert. Anders wäre ein Überleben im Beruf kaum möglich. Auf Arbeit betreue ich ja nicht nur Computer sondern auch Menschen. Inzwischen telefoniere ich recht gern. Mein Beruf erwies sich überhaupt als sehr hilfreich. Nach dem Studium im Sachsenland hatte ich dort verständnisvolle Kollegen, die mich einfach so nahmen, wie ich war. Mein erster Arbeitsplatz nach der Einarbeitung war ausgerechnet eine Baustelle. Entweder man lernt zu schwimmen oder man geht unter. Ich bin gepaddelt.

Wenn ich zurückdenke, hatte ich als Kind kein Problem damit, wenn meine Freundin nicht mit mir spielen konnte oder wollte. Ich habe mich hervorragend allein beschäftigt. Es gab ja genug Interessantes zu entdecken. Meine Eltern sahen darin kein Defizit, sondern fühlten sich entlastet dadurch, dass sie mich nicht laufend unterhalten mussten. Dass ich nun ungesellig bin, mir selbst genug und keinen Kontakt zu anderen haben will, ist natürlich ein Märchen. Aber ich kriege auch keine Krise, wenn ich mehr als drei Tage alleine bin. Ich brauche das richtige Verhältnis aus Distanz und Nähe. Ich will nicht allein sein, aber trotzdem auch mal für mich sein dürfen. Ebenso ist es mit meiner Großfamilie im fernen Berlin. Dass Ihr das nicht falsch versteht, ich liebe meine Sippe, und ein Leben ohne sie erscheint mir gänzlich undenkbar, aber wenn ich in Berlin wohnen würde, kämen sie mich Reiherum besuchen. Ob mir diese Art von Routine gefiele? Vielleicht würde sich einer schuldig fühlen, wenn er nicht kommen könnte. Solcherart von Verpflichtung will ich nicht. Gerade jetzt, wo ich an Krebs erkrankt bin, geht es mir durch die Therapie nicht an allen Tagen gleich gut. Manchmal ist mir alles zu viel. Oft will ich einfach nur meine Ruhe haben, dann lege ich mich auf mein Bett und mache nichts. Ich muss nicht müssen, und das ist gut.

Meine Wohnung wäre allerdings aufgeräumter, so wie im letzten Jahr als das Tanteneinsatzkommando durch meine Bleibe rollte. Mein Onkel hatte kurzerhand, ganz cool, jeden für doof erklärt, der nicht einsehen wollte, dass ich durch meine Krebserkrankung zu schlapp für Vieles war. Inzwischen kann ich meinen Handstaubsauger wieder halten, ohne mit ihm umzukippen, und plätten kann ich auch allein. Ich kann nur noch nicht viele Dinge auf einmal bewältigen. Also muss ich mir schon genau überlegen, was ich mache. Wenn ich zu einem Spaziergang durchs Viertel starte, bin ich anschließend erschossen, und dann geht nichts mehr. Aber für schwere Tragedienste stehen nach wie vor meine Arbeitskollegen und der Liebste meiner Freundin helfend bereit. Dieses Wochenende war mein Bruder gekommen, um mich zu unterstützen.

Dass ich im Moment gruselig aussehe und in jedem Horrorfilm auch ohne Maske als Statist mitspielen könnte, stört mich wenig. Ich seh mich nicht und muss auch nicht in den Spiegel gucken. Mein Aussehen ist mein allergeringstes Problem. Viel schwerer wiegt, dass ich immer noch so schwächlich bin und nur langsam zu Kräften komme. Da wünschte ich mir doch größere Fortschritte. Diese Woche ging es mir nicht so toll, ich hatte gemeine Kopfschmerzen. Die hatte ich das letzte Mal vor meiner ersten Operation. Ich hatte schon geglaubt, ich wäre sie ein für allemal losgeworden. Mein Hintern hat sich auch wieder unangenehm in Erinnerung gebracht. Aber immerhin habe ich es geschafft, einen Artikel für mein Reisejournal zu schreiben. Den letzten hatte ich dort im Dezember veröffentlich. Nach meinen Logdateien gibt es einige Unentwegte, die mich trotz fünfmonatigem Schweigen immer noch im Feedreader stehen haben. Das erstaunt mich schon. Ich würde gerne monatlich je einen Artikel im Reisejournal und im Rezeptblock sowie einmal in der Woche einen Bericht hier in Nordlichter veröffentlichen. Ob ich das schaffe, steht auf einem ganz anderen Blatt, denn morgen beginnt die nächste Runde Chemotherapie.

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