Nordlichter
Kopf
Freitag, 5. Mai 2006
Therapeutisches
Ob das nun noch mit rechten Dingen zugeht, wage ich zu bezweifeln. Ich musste drei Tage hintereinander das Klo hüten. Mein Darm nötigte mich zu schnellen Sprints durch die Wohnung. Kaum hatte ich es mir auf dem Sessel in der Onkologie gemütlich gemacht, war von Stuhldrang nichts mehr zu spüren. Wenn ich esoterisch angehaucht wäre, würde ich von einer gewissen Aura plappern und mit der Wünschelrute nach dem Kraftfeld suchen. So meine ich nur ganz nüchtern, dass die Atmosphäre dort und die Betreuung nicht nur auf mich sondern auch auf meinen Darm beruhigend wirken. Trotz Gesundheitsreform und Sparzwang würde ich gern sehen, dass es in der Demminer Onkologie so bleibt, wie es ist. Im Morgenmagazin hatte ich andere Krebsstationen gesehen. In Demmin wirkt es durch die schönen, bequemen Ledersessel weniger wie ein Krankenhaus. Wenn man nicht wüsste, das hier ist die Krebsstation, könnte man dort glatt einziehen.

Aber nicht in allen Fällen hat die Station eine positive Wirkung, eine Schwester und auch der Doktor hatten sich krankgemeldet. Als Patient meint man immer, das medizinische Personal sei von Berufs wegen gegen Erkältungen gefeit, und dass die Bazillen am weißen Kittel nur so abrutschen aber nicht, dass sie klebenbleiben. Krankenhausangestellte werden eben auch krank, na so was. Seit ich mich mit dem Krebs rumschlage, ist mein Onkologe, der mich auch am Darm operierte, für mich der wichtigste Arzt. Was er sagt, hat besonderes Gewicht. Den Doktor sehen ich an den Tagen, an denen ich schon um 7.00 Uhr in der Onkologie auf dem Sessel hocke. Sonst werde ich wie eh und je liebevoll von den Schwestern umsorgt genau wie die anderen Krebspatienten auch. Ab und zu setzt sich eine Schwester zu mir, und wir plauschen, nicht über die Krankheit sondern über Gott und die Welt. Das muss einfach sein.

In meiner Runde in der Onkologie saßen außer mir noch eine ältere Dame und ein älterer Herr. Beide hatten Darmkrebs und Metastasen. Die Frau stellte fest, wie gut es doch wäre, dass man keine Ahnung hat, was alles auf einen zukommt. Schön, dass wir nicht in die Zukunft sehen können. Ich will gar nicht erfahren, wieviel Zeit mir noch bleibt. Dann wäre mein ganzes Treiben nur darauf gerichtet, den Löffel pünktlich abzugeben. Ich bin mir durchaus bewusst, dass meine Krankheit nicht nur in die Hose gehen kann, sondern unter Umständen six feed under endet. Aber ich mache mir im Augenblick darüber keine Gedanken. Die ARD-Themenwoche hatte ich deshalb auch gemieden, weil ich der Meinung bin, dass es mir nicht gut tut, wenn ich zusehe, wie jemand seinen Kampf mit dem Krebs verliert. Ich will meinen gewinnen!

Neben dem Krebs gibt es auch noch den normalen Alltag, aus dem ich mich ausgeschlossen fühle. Im Moment bin ich durch Übelkeit und Erbrechen, sonst auch durch gesteigerte Toilettengänge, zu unfreiwilligem Hausarrest verdammt. Ich kann nicht mal um den Block gehen, um mir so was wie Muskeln wieder anzutrainieren. Inzwischen bin ich nur noch Haut und Knochen. Meine Kollegin fragte mich gestern, ob ich mich nicht langweile so allein. Och, ich kann mich schon ganz gut beschäftigen. Meine Haupttätigkeiten lesen und Artikel für Weblogs schreiben sind gewöhnlich keine Aktionen, die man im Rudel betreibt. Natürlich freue ich mich, wenn Besuch kommt. Mein Bruder und mein Neffe waren nach Ostern hier, Onkel und Tante letzte Woche und heute. Aber ich gebe schon zu, dass ich gern zu meiner Sippe nach Berlin fahren würde. Meine Arbeitskollegen fehlen mir auch.

Deshalb werde ich die in der nächsten Woche, wenn mein Hintern mich lässt, besuchen. Im Nordkurier war ein Foto mit zwei meiner Kollegen abgebildet. Im zugehörigen Artikel stand, dass sie inzwischen alles auf Internettelefonie umgestellt hätten, Konferenzen am Bildschirm seien auch möglich. Ich habe meiner Kollegin vorgestern am Telefon gesagt, ich will das auch haben. Die Grundvoraussetzung Webcam und Flatrate ist gegeben. Mal sehen, welche Programme meine Kollegen benutzen. Dann könnten wir uns wenigstens am Bildschirm zuwinken, wenn ich schon nicht hinkann.

Inzwischen funktioniert endlich WLan zwischen Notebook und Router. Das grüne Patchkabel quer durchs Wohnzimmer war doch eine arge Stolperfalle. Bei meinem gesteigerten Hang im Haushalt zu verunfallen, ist so was einfach zu gefährlich. Kabellos surfen ist besser, besonders da mein Netzwerk absolut sicher ist. Der Router, ein Siemensmodel von der Telekom, schaltet das WLan nämlich in unregelmäßigen Abständen ab. Nichts ist so sicher wie ein Netzwerk, das nicht mehr vorhanden ist. Wer soll darin einbrechen? Dann muss ich wieder mal die Netzwerkliste aktualisieren. Windows komplettiert den Irrsinn, indem es sagt, nicht verbunden. Darunter steht dann, ich hätte momentan eine Verbindung mit dem Netzwerk. Ich habe beschlossen, ich muss das nicht verstehen und surfe fröhlich weiter.

Im Web halte ich mich häufig auf, Fernsehen gucke ich dagegen nur recht wenig. Nach dem Morgenmagazin schalte ich die Kiste ab. An den danach folgenden Telenovas, Soaps, Talk-, Gerichts- und sonstigen Shows habe ich kein Interesse. Beim abendlichen Zappen hatte ich neulich eine Dokumentation auf RTL2 erwischt. RTL2 ist nicht gerade mein Haussender, ich mag keine Menschenzoos. Im Dokumentarfilm ging es um den Unabomber. Theodore John Kaczynski war Mathematiker und Professor in Berkeley. Aus seinem Unbehagen, wie sich Technik und Gesellschaft entwickeln, bastelte er sich eine Philosophie zusammen. Ted Kaczynski, der die Gesellschaft zurück zur Natur bomben wollte, wurde 18 Jahre erfolglos vom FBI und der US-Post gesucht. Das ist nicht gerade beruhigend. Am Ende verriet er sich selber, als er sein Manifest veröffentlichen ließ. Sein jüngerer Bruder erkannte den Stil. Ich habe mit Ludditen und sonstigen Maschinenstürmern nichts am Hut. Wenn ich nicht gerade an Krebs erkranke, verdiene ich meine Brötchen normalerweise damit unschuldige Server zu quälen und deren Nutzer zu traktieren. Bei einem Leben zurück zur Natur wäre ich schlicht und ergreifend jetzt tot. Meine Mutter ist nur 62 Jahre alt geworden. Ich hätte nicht einmal das geschafft.

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