Nordlichter
Kopf
Dienstag, 2. Mai 2006
Irgendwas ist immer
Ich denke Ihr habt es gemerkt, meine Lieben. Wenn ich die aktuelle Krebsberichterstattung unterbreche, und Artikel zum Thema Medien schreibe, geht es mir offensichtlich besser. Ganz so schön ist es leider nicht. Ich habe einen Rückfall erlitten, besser gesagt Durchfall. Seit vorgestern versuche ich erfolglos mich zu verstopfen. Es klappt nicht, obwohl die Schwester mir vorsorglich Pillen zugeteilt hat, von denen sie behauptete, damit könne man quer durch Afrika kommen. Ich komme nicht einmal quer durch meine Wohnung. Im Augenblick trainiere ich verstärkt mein Sprintvermögen.

Dabei ging es mir in der letzten Woche recht gut. Seit ich anerkannt habe, dass mein Hintern der Boss ist, und er über mich bestimmt, habe ich es mit meinem Sitzungsdrang leichter. Ich konnte sogar meine Krankengruft verlassen und zwischen zwei Toilettengängen ein wenig einkaufen. Als Federgewicht kann ich mir gönnen, was für die meisten Frauen aus diätdiktatorischen Erwägungen tabu ist. Nachmittags bestehe ich auf mein Stück Kuchen. Am liebsten esse ich Liebesknochen oder Käsetorte, ich bin aber auch für Streuselschnecken oder Puddingbrezeln zu haben. Die Wurst kaufe ich beim Fleischer nebenan. Ich mag mich nicht von den Familienpackungen im Supermarkt ernähren, eine Woche die gleiche Wurst essen uaaaaaaah. Außerdem hat mein Fleischer eine phantastische Auswahl an Salaten, schon allein deshalb lohnt sich der Gang. Die wichtigste Zutat für mein wochenendliches Bratenexperiment kaufe ich dort auch. Da das Hautaugenmerk bei meiner Ernährung auf Zunehmen mindestens aber Gewichthalten liegt, spielt die PR-Initiative „billig, billig“ und das Diätendogma „fettarm“ bei meinen Einkäufen keine Rolle. Wichtig ist allein, dass es mir schmeckt, und ich wieder etwas auf die Rippen kriege.

Ich versuche zwar soviel zu essen, wie ich kann, aber mein Bauch ist meistens eingefallen. Aufgequollen ist er immer dann, wenn mich mein Hintern zum Sprinten zwingt. Mein Bauch sieht nach wie vor merkwürdig aus. Aber seit meiner ersten OP bin ich ja daran gewöhnt. Ich beäuge noch immer misstrauisch meine letzte Operationsnarbe. An der Stelle, wo ich im Greifswalder Krankenhaus den Bluterguss kühlen musste, und mir zwei Klammern vorzeitig gezogen wurden, schaut es aus, als wolle es aufplatzen. Ich traue mich deshalb immer noch nicht, mich in die Wanne zu legen, obwohl ich so gerne baden würde. Meine Haut ist durch die Chemotherapie noch trockener als gewöhnlich geworden. Meine drei Operationsnarben auf dem Bauch reibe ich deshalb mit ganz normalem Körperöl ein. Mehr Pflege ist meines Erachtens nicht nötig.

Zwischendurch versuche ich meine Wohnung aufzuräumen. Die gleicht im Moment mehr einer Mischung aus Rumpelkammer und PC-Werkstatt. Durch meine Krankheit und die Krankenhausaufenthalte ist halt viel liegengeblieben. Am schlimmsten haben meine Zimmerpflanzen gelitten. Die meisten Verluste gab es unter den Orchideen. Schade, es hat auch das Exemplar mit den ziegelroten Blüten erwischt. Mein Schwertfarn hat es überstanden, der Geweihfarn leider nicht. Ich habe von den Pflanzen alle vertrockneten und gelben Blätter entfernt. Das Fensterblatt hat nur noch zwei Blätter die Goldfruchtpalme gar nur eins. Beide sehen eher wie zwei Prothesen denn wie imposante Grünpflanzen aus. Eindrucksvoll ist nur noch mein riesenhafter Zierspargel Asparagus falcatus, der meterlange Triebe wachsen lässt. Die Pflege dankt er mir, wie gewöhnlich, indem er mir mit seinen Stacheln die Haut zerschrammt. Während ich in Greifswald an der Leber operiert wurde, sind von meinen fünf Blumenkästen auf dem Fensterbrett zwei abgestürzt, zum Glück ohne jemand den Kopf zu zerdellen. Die kaputten Kästen haben samt Inhalt bei meiner Freundin im Garten ein Asyl gefunden. Im Sommer, wenn am Haus die Balkons angebaut werden, nimmt sie auch die restlichen drei auf.

Nach den Pflanzen werde ich mir als nächstes meinen Kleiderschrank vornehmen. Mir passt ja vieles nicht mehr. Die meisten Sachen schlackern nur noch so um meinen Körper. Ich komme mir darin vor wie eine Vogelscheuche. Es hat wenig Sinn, Sachen aufzuheben in der Hoffnung, dass sie später einmal wieder passen könnten, seien sie nun zu weit oder zu eng. Im Augenblick habe ich wenig Vertrauen darauf wieder in meine Sachen reinwachsen zu können. Morgen früh habe ich Chemotherapie, da wir es mit dem Essen und alles im Magen behalten wieder schwierig.

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