Nordlichter
Kopf
Sonntag, 21. Mai 2006
Es entwickelt sich.
Ich komme jetzt ohne Probleme die Treppen zu meiner Wohnung hinauf, und mein Hintern ist mir auch weiterhin wohlgesonnen, kein Hausarrest mehr. Ich drehe meine Runden im Viertel. Demnächst klettere ich auf meinen Hometrainer, und dann geht es ab. Inzwischen wäre ich auch an so etwas wie einem ordentlichen Gesäß wieder höchst interessiert. Es tut verdammt weh, wenn die Rückseite nur mit Haut gepolstert ist. Zum schmerzfreien Dauersitzen eignet sich gerade noch mein Ledersofa.

Ich bin vollständig motorisiert. Neben Notebook, Handy und Digicam habe ich auch einen PDA, den ich mit in die Onkologie geschleppt habe. Auf dem Speicherchip hatte ich einige Musikstücke kopiert. Da ich mich hartnäckig weigere mir Stöpsel in die Ohren zu stecken, waren es mit Rücksicht auf die älteren Herrschaften in meiner Krebsrunde ruhige Titel. Es begann mit Bob Dylan und Bob Marley, die gemeinsam an die Himmelspforte klopften, und endete mit Atlantis. Nebenbei kann ich Solitär spielen oder ein paar Gedanken notieren. Aber meistens liege ich während der Sitzungen im Ledersessel und lese z.B. Sarah Kuttner oder Harald Schmidt.

Wie ich die Chemotherapie vertrage, ist sehr unterschiedlich. Dieses Mal war mir schon gleich am ersten Tag noch während der Sitzung übel, und um meine Zunge schien ein Pelz zu wachsen. Noch am Samstag lag sie mir wie ein Fremdkörper im Mund. Im Blumenladen hatte ich dann das von der Schwester vorausgesagte schmerzhafte Kribbeln in den Fingerspitzen. Aber damit nicht genug, meine Lippen fühlten sich taub an und piekten auch. Beim Essen hatte ich wieder Krämpfe rechts und links am Kiefer. Wenn ich etwas Kaltes trank, dann hatte ich einen Ziegelstein im Hals, an dem ich die Flüssigkeit vorbeischlucken musste. Am dritten Tag habe ich morgens gebrochen mit nichts im Magen aber immerhin der Zahnbürste in der Hand. Am letzten Wochenende ging es mir so gut, und nun bin ich durch die Chemo wieder abgestürzt. Ich fühle mich richtig krank. Essen außer Frühstück war wegen der Übelkeit wiedermal unmöglich. Am Donnerstag hatte ich solche schmerzhaften Blähungen, dass ich nicht mehr sitzen konnte. So bin ich nach dem Frühstück gleich wieder ins Bett gekrabbelt, und habe mich dort wie ein Wurm zusammengerollt.

Ich ertrage das alles ergeben. Beschleunigen lässt sich die Genesung nicht. Wenn ich das versuche, geht es mir noch schlechter. Nach der Sitzung in der Onkologie muss ich auf meinem Weg zum Fahrstuhl immer an Sprechzimmer und Warteraum vorbei. Der Warteraum zur onkologischen Sprechstunde war am Dienstag gut gefüllt. Im Nordkurier hatte ich gelesen, dass Termine bis zu einem Vierteljahr im voraus vergeben werden. Im vergangenen Jahr wurden 1042 Patienten betreut. Sprechzimmer und Warteraum sind am Anfang des Jahres ein Stockwerk höher verlegt worden. Krebspatienten bräuchten mehr Ruhe und hätten ein erhöhtes Mitteilungsbedürfnis. Wen wundert das?

Sein Informationsbedürfnis kann man auch im Internet stillen. Sehr hilfreich ist die Webseite darmkrebs.de der Felix-Burda-Stiftung. Dort gibt es auch Aufklärung über die verschiedenen Stadien des Darmkrebses. Die Seite hat auch ein Forum, das ich allerdings nicht nutze. Es ist mir zu unübersichtlich. Ich bin nach wie vor im Stoma-Forum unterwegs, auch wenn ich jetzt kein Beuteltier mehr bin. Unser Webkänguruh, der Moderarator, hat es sehr schön neu geordnet. Das Gute an dem Forum ist, es ist offen für alle. So kann erstmal jeder mitlesen, ohne sich gleich registrieren zu müssen. Es gibt kein Thema, über das man sich dort nicht austauschen kann, ob Probleme mit der Versorgung, dem Selbstwertgefühl oder in der Partnerschaft. Das Stoma-Forum ist meine virtuelle Selbsthilfegruppe und immer noch wichtig für mich. Wenn es mir beschissen geht, kann ich mich dort trösten lassen. Ich kann aber andererseits Leuten helfen, denen es noch schlechter geht als mir. Das sorgt für die nötige Balance. Es rückt alles wieder ins rechte Lot, und macht es mir leichter mit der Krankheit zu leben. Die Ärzte im Krankenhaus konzentrieren sich auf den physischen Aspekt. Die Psyche der Patienten ist kein Thema. Da muss man schon selbst sehen, wo man sich Hilfe holt. Einen Psychoonkologen gibt es im Kreiskrankenhaus Demmin nicht.

Der Musiker James Last, der von seinem Hautkrebs genesen ist, antwortete auf die Frage, ob er Angst gehabt hätte zu sterben:
Nein. Ich hatte noch nie Angst vor dem Tod.
Ich habe Angst, alles andere wäre gelogen. Aber die Angst ist nicht so groß, dass sie mich lähmt oder mein ganzes Tun bestimmt. Ich kann mit ihr leben. Die beste Methode mit der Angst fertigzuwerden, ist für mich noch immer darüber zu schreiben. Den Artikel zu meinem Befinden veröffentliche ich spätestens am Sonntagabend, weil ich weiß, dass meine Arbeitskollegen schon am Montagmorgen darauf lauern. Wenn ich telefoniere und weit ausholen will, heißt es immer, das weiß ich schon längst, ich lese dein Weblog. Ob ich zwischen den Sonntagen noch andere Artikel schreibe, hängt davon ab, wie ich mich fühle. In der Chemowoche sind großartige Berichte von mir eher weniger zu erwarten.

Egal, was meine Krebserkrankung noch für mich bereithält, ich werde mich nicht vom Balkon stürzen, denn ich habe gar keinen Balkon. Ich kann noch nicht mal aufs Fensterbrett klettern. Mir wird schon schwindlig, wenn ich auf eine Leiter steige. Ich leide etwas unter Höhenkoller. James Last hatte in seinem Interview behauptet, eine positive Einstellung hätte zu seiner Gesundung beigetragen. Das ist ein Irrtum. Der Sohn meines Arbeitskollegen hatte Blutkrebs und war der Optimismus in Person. Gerettet hat es ihn trotzdem nicht. Es spielt für meinen Genesungsprozess nicht die geringste Rolle, ob ich nun den ganzen Tag jammere oder singe. Allerdings ist es für die Leute, die mit mir umgehen müssen und für mich selbst einfacher, wenn ich gut drauf bin. Aber, falls ich einen Durchhänger habe, mache ich mir deswegen kein schlechtes Gewissen. Dieses Rumgereite auf eine positive Denke ist mir suspekt. Es impliziert Selbstvorwürfe. Immer mit der Angst im Hinterkopf, wenn du jetzt nicht positiv denkst, dann bist du selbst schuld, wenn du wieder Metastasen kriegst. Das ist kompletter Blödsinn! Dafür, wie ich mit meiner Krebserkrankung umgehe, ist eher meine Einstellung zum Leben überhaupt verantwortlich. Trotzdem, jeder Tag ist nicht gleich, kein Mensch kann immer nur heiter sein, nicht einmal ich. Wenn mir nach Heulen zumute ist, dann tue ich es einfach. Ich habe eine neue große Packung mit genug Tempotaschentücher.

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