Nordlichter
Kopf
Montag, 14. Mai 2007
Nachwehen
In der Nacht konnte ich immerhin wieder trinken. So blieb die Option bei der Visite, mich an den Tropf zu hängen, auch nur eine Drohung. Den ersten Tag nach der OP döste ich im Bett still vor mich hin, solange mir eine meiner zwei Mitpatientinnen dazu Gelegenheit gab. Die ältere Dame, mit beträchtlichem Busen und Leibumfang, hatte genau den richtigen Resonanzkörper für martialische Schnarchkonzerte. Ich konnte dagegen nur zaghaft hallo, hallo piepsend aufbegehren. Wobei die Kettensäge kurz verstummte, um dann mit noch größerer Lautstärke ihr Tag- und Nachtwerk zu verrichten. Niemand bedauerte diese Ruhestörung mehr als die alte Dame selber. So konnten wir anderen beiden ihr zumindest nicht böse sein.

Die zweite Patientin lag im Bett neben mir und war in meinem Alter. Nachdem ihre rechte Brust wieder aufgebaut worden war, hatte sich zwei Abszesse gebildet. Der kleinere hatte die Größe einer Rosine. In den größeren konnte man eine Tomate hineinstecken. Das behauptete ihr Vater, der sie verbunden hatte, bevor sie ins Krankenhaus fuhr. Die Wunde sah zumindest unschön aus. Das letzte Mal war meine Bettnachbarin zu Ostern im Krankenhaus gewesen. Sie hatte entsprechend die Nase voll. Sie meinte, sie hätte auf den Wiederaufbau ihrer rechten Brust verzichtet, falls sie vorher geahnt hätte, was auf sie zukommt. Nun, hinterher ist man immer schlauer.

Meiner Bettnachbarin wurde unter Narkose ein Vakuumverband angelegt. Dabei wird ein Stück schwarzer Schaumstoff in die Wunde eingepasst und mit einem Folienverband befestigt. Diese Folie schließt die Wunde luftdicht ab. Ein an eine Pumpe angeschlossenes Absaugsystem komplementiert das ganze. Das Gerät musste meine Bettnachbarin wie ein Kofferradio mit sich herumtragen. Es gab ab und zu seltsam schmatzende Geräusche von sich. Mit der Pumpe wird das Wundsekret abgesaugt und gefiltert. Die Brust meiner Nachbarin ähnelte in diesem Folienverband den eingeschweißten Waren an der Wursttheke im Supermarkt.

Meine Operation war brusterhaltend verlaufen und mein Oberkörper nicht in Folie verpackt worden. Stattdessen hatte man mich wie eine ägyptische Mumie in Binden eingewickelt. Weiße Papierstreifen klebten unter dem Verband auf der rechten Brustwarze und dem Schnitt in der Achselhöhle. Sie glichen den Klebestreifen, die ich früher für technische Zeichnungen verwendet hatte. Es gibt doch wirklich äußerst merkwürdige Verbandmaterialien! Der Oberarzt begutachtete während der Visite sein Werk und war sehr zufrieden. Es würde gut aussehen. Na, das hoffte ich doch stark.

Während der sieben Tage in der Frauenklinik brauchte ich die aparten Thrombosestrümpfe nicht überstreifen. Ich hatte diesmal meine eigenen Socken mit. Um die abendliche Spritze kam ich nicht herum. Ich ließ mich in den Bauch piksen. Das hätte ich auch bei meinen früheren Aufenthalten im Krankenhaus getan, falls mich jemand bezüglich der Lymphödemen gewarnt hätte. Aber das hatte niemand getan. In den Beinen habe ich inzwischen welche, und der rechte Arm ist nach der OP gefährdet. Mir darf nur noch links Blut abgezapft werden. An einem Abend gab mir die Schwester keine Spritze. Die Anzahl der Blutplättchen und weißen Blutkörperchen wären so gering. Sag ich doch, ich bekomme laufende Meter blaue Flecke, und mein Immunsystem liegt auch am Boden. Kein Wunder, wenn ich da jeden Krebs aufsammle, der am Wegesrand steht.

Meine Mitpatientinnen fanden meine Krankengeschichte, erst Darmkrebs, dann Lebermetastase, nun Brustkrebs und das alles innerhalb von nur drei Jahren, horrormäßig schlimm. Ich war im Zweifel, wenn ich da an ihre Erkrankungen dachte. Ich glaube nicht, dass man den einen Krebs gegen den anderen aufwiegen kann. Die nette alte Dame hatte inzwischen eine andere ebenso nette alte Dame abgelöst.

Meine beiden Zimmergenossinnen schüttelten sich vor Entsetzen bei dem Gedanken, sie müssten ihre Krebserkrankung allein ertragen. Ihnen stehen ihre Ehemänner zur Seite. Ich hingegen hatte keine Wahl, ich musste und muss da alleine durch. Meinen Mitpatientinnen schmunzelten, als ich ihnen sagte, wenn ich gewusst hätte, was mir blüht, hätte ich mir vor meiner Krankheit selbstverständlich jemanden angelacht. Es wäre schön, stellte die alte Dame fest, wenn man einen Partner hätte, der einem Tee kocht. Oder, ergänzte ich, der einen einfach in den Arm nehmen würde. Die Möglichkeit, in der Zeit der Krankheit jemand kennenzulernen, tendiert doch eher gegen Null. Das einzige, was man zur Genüge sieht, sind Krankenhäuser und andere Nichtgesunde, die mit sich und ihren Beschwerden beschäftigt sind. Davon hat man dann irgendwann genug insbesondere, wenn sich die eigene Krankengeschichte zu einer never ending story entwickelt.

Mit meinen Gebrechen bin ich von vornherein ohne jede Chance gerade auf dem Markt der Eitelkeiten. Wer würde sich von meiner Behinderung nicht abgeschreckt fühlen? Von der noch immer nicht durchgestandenen Krebserkrankung wollen wir erst gar nicht reden. Das Thema habe ich zunächst abgehakt.

Was bin ich nicht? Nicht reich, nicht schön, nicht mehr jung.
Was bin ich? Schwer krank, trotzdem fidel, mit zähem Lebenswillen.

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