Nordlichter
Kopf
Freitag, 1. September 2006
Ti, das Bloggen und der Krebs
Am letzten Sonntag hatte ich abends einen Anruf aus Köln, und jemand fragte mich, ob ich denn Ti wäre. Der Kölner hatte nach Queensongs gegoogelt und war dabei über mein Blog und meinen Krebs gestolpert. Ti ist meine virtuelle Existenz im weltweiten Datennetz und nur ein kleiner Teil von mir. Auch wenn ich hier relativ offen über meine Krebserkrankung und meinen Umgang damit berichte, gibt es Dinge, die würde ich nie ansprechen. Wenn der kleine Mann mir etwas im Vertrauen erzählt, dann ist es bei mir gut aufgehoben. Es gibt Grenzen für mich. Hier ist nicht Big Brother. Ich will auch nicht ins Fernsehen und möchte mein Konterfei in keiner Zeitung abgebildet sehen. Im Blog landet nur, was ich jedem anderen auch so erzählen würde. Alles übrige gehört nicht hierher. Der Kölner befragte mich über meine Erkrankung, und war verwundert, dass ich am Telefon nicht wehleidig klang. Nun, Krebskranke jammern nicht 25 Stunden am Tag. Gewöhnlich haben sie besseres zu tun. Wir einigten uns darauf, dass er mich in zwei Jahren wieder anruft. Er wird dann 60.

Meinen Blogs verdanke ich die virtuelle Bekanntschaft mit Menschen, denen ich im realen Leben nie begegnen würde. Besonders freue ich mich natürlich über positives Feedback. Die letzte derartige E-Mail kam von Bomber auch aus Köln. Er hatte nach Kreuzspinnen gesucht und dann meine Krebsberichterstattung gelesen. Er teilte mir mit, dass er an einigen Stellen doch geschockt war. Aber mein Schreibstil gefiel ihm, und ich sollte unbedingt so weitermachen. Was ich natürlich gern tue.

Meine Freundin hatte mir erzählt, sie wollte mein Blog eigentlich nicht lesen. Denn sie würde meine Krankheit ja live miterleben. Uneigentlich liest sie dann aber doch. Blogs kann man ein gewisses Suchtpotenzial nicht absprechen. Die meisten Zugriffe habe ich aber nicht hier in Nordlichter sondern erstaunlicherweise im Podcast Nachtgedanken, der sich nur mit meiner Krankheit beschäftigt. Bei den letzten 10 Episoden hatte ich pro Folge etwa 70 Zuhörer. Wie sich meine Hörerschaft zusammensetzt, ob aus Krebserkrankten, deren Angehörigen oder einfach nur Leute, die anteilnehmen, ich habe keine Ahnung. Aber ich finde es schön, dass mir so viele zuhören. Mit diesem Blog und dem Podcast habe ich die Möglichkeit meinen Lesern oder Hörern Themen nahezubringen, die mich beschäftigen. Aber Macht habe ich damit selbstverständlich keine.

Über den Machtfaktor in Blogs macht sich Jazznrhytm in seinem Artikel "Blogs, Macht und der Unterschied zu den Vereinigten Staaten" Gedanken. Es ist das übliche Gejaule, in den USA wäre sowieso alles besser und überhaupt. Im Westen also nichts neues. Die Altersgrenze bei deutschen Bloggern setzt Jazznrhytm bei 40 Jahren an. Er outet sich damit nicht gerade als Kenner der hiesigen Bloggerszene. Der Liste der deutschen 50+Blogger kann ich ganz spontan zwei weitere hinzufügen den Schockwellenreiter und den Podcaster Friedrich Witt.

Blogger an die Macht! Aber was heißt schon Macht? Einige Firmen wie Jamba! an den Pranger zu stellen und sich daran aufzugeilen, es denen mal gezeigt zu haben? Das ist Pipifax. Am System ändert sich überhaupt nichts. Inzwischen machen hunderte andere Firmen immer noch das gleiche unsaubere Ding. Richtige Macht habe ich erst, wenn ich in der Lage bin, Gesetze durchzusetzen oder zu verhindern. Ich kann mich an keinen Fall erinnern, dass ein Weblog, wie prominent es auch immer sein mag, das je erreicht hätte, auch nicht in den USA. Wenn ich nicht will, dass ich mit meinem Krebs künftig unter die soziale Euthanasie falle, wird es nicht reichen ausschließlich dagegen anzuschreiben. Das schaffe ich nur, wenn ich mich einer Vereinigung anschließe, die meine Interessen vertritt. Ohne Lobbyismus läuft in der Politik bekanntlich nichts mehr. Blogger und HartzIV-Empfänger haben keine Lobby.

Die Amerikaner sind etwas sehr anders gestrickt als die Deutschen. Ihre beste und zugleich ihre schlimmste Eigenschaft ist ihre Begeisterungsfähigkeit. Als gelernter Deutscher ist man da doch etwas nüchterner veranlagt. Es gibt in den USA eine völlig andere Kultur der politischen Diskussion. In Deutschland haben wir stattdessen Sabine Christiansen und ihre Expertenrunde von der INSM. Die Amerikaner nutzen nicht nur ihre demokratischen Rechte, sie verteidigen sie auch. Aber um das zu sehen, muss man ja nicht unbedingt über den großen Teich gehen, schon ein Blick über den Gartenzaun in Richtung Frankreich genügt.
Es ist nicht so häufig, dass sich die Deutschen auflehnen gegen das, was ihnen von oben verordnet wird. Das obrigkeitsstaatliche Denken hat eine lange Tradition; oder, freundlicher formuliert, die Deutschen sind ein sehr geduldiges Volk.
Stellten Jan Fleischhauer und Christoph Schmitz vom Spiegel fest.

Dies spielt in Jazznrhytm Betrachtungen keine Rolle. Dafür hat er einen anderen Verantwortlichen ausgemacht. Ratet mal wenn, den deutschen Sozialstaat natürlich. Habt ihr etwas anderes erwartet? Na, da haben wir es wieder einmal, der Sozialstaat trägt an allem die Schuld. Der erstickt aber auch jede Eigeninitiative. Wenn mir die Krankenkasse künftig eine notwendige Operation verweigern sollte, und ich das auch nicht selber bezahlen kann, die Rettung naht! Vielleicht gibt es demnächst im Baumarkt billig Chirurgenbestecks zu kaufen, "Der kleine Operateur" mit Anleitung zur Darm-OP? Das Gesundheitswesen wäre entlastet, und könnte sich endlich den wirklich wichtigen Dingen im Leben widmen. Denn wahrscheinlich bringt es finanziell mehr ein, reichen eitlen Leuten den Hintern und einiges mehr zu liften als Krebspatienten der Gesetzlichen Krankenkasse zu versorgen.

Warum ich, um die Leute zu Blogs und sozialen Netzwerken zu treiben, nun ausgerechnet den Sozialstaat zerschlagen soll, erklärt Jazznrhytm nicht. Mein soziales Netzwerk hier im Nordosten der Republik funktioniert bestens. Meine Gewährsleute haben mir versichert, sie hätten so was auch schon im westlichen Deutschland gesichtet. Nur Jazznrhytm hat das wohl niemand gesagt. Solche Netzwerke gab es schon zu DDR-Zeiten, insofern ist das hier nichts neues. Man knüpft sein Rettungstuch besser bevor man es braucht! Ich konnte nicht ahnen, dass ich meins einmal so nötig haben würde. Mein Netzwerk wird auch durch mein Weblog zusammengehalten. Es ist meine Art mit der Krebserkrankung fertig zu werden und gleichzeitig eine Entlastung für mich. Ich muss so nicht hundertmal das gleiche erzählen. Aber alle wissen über meinen Krankheitsverlauf Bescheid und fragen mich nur noch, wie es mir gerade geht. Denn meine Tagesform kann eine völlig andere sein als die im Blog beschriebene. Bevor ich schwer krank wurde, wussten die meisten meiner Leute nicht, dass es so was wie Weblogs überhaupt gibt. Mein alter Vater hat in diesem Jahr einen Internetkurs in der Volkshochschule belegt. Er beschwert sich dann schon mal am Telefon bei mir, wenn ich nicht pünktlich zum Wochenende den neuen Artikel zur Krebsberichterstattung liefere. Die anderen liest er natürlich auch. Übrigens meine Leute kommentieren nicht in meinem Weblog, sondern rufen mich an. Aus dem einfachen Grund weil sie und ich das für persönlicher halten.

Mein netter Anrufer aus Köln jedenfalls hatte mir am Ende unseres Gesprächs das gewünscht, was ich mir trotz Krebs auch erhoffe, ein langes Leben. Das letzte Lied auf meiner Queen-Revival-CD ist das überaus bittere "The show must go on". Auch die nächste bitte nicht ohne mich!

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