Nordlichter
Kopf
Samstag, 26. August 2006
Durchhänger
Keine Angst, meine Lieben, nicht ich hänge durch sondern eines meiner Körperteile, genauer gesagt mein Hintern. Wenn er sich nicht gerade in den eines Pavians verwandelt, ist es mir recht egal, was er hinter meinem Rücken so treibt. Aber letztens betrachtete ich im Spiegel meinen immer noch merkwürdig anzuschauenden, narbenverzierten Bauch. Doch etwas überrascht, stellte ich fest, ich kann auch meinen Hintern sehen. Ich erinnere mich nicht, dass ich das schon mal vorher konnte. Mein Hintern besteht nur noch aus Hautlappen. Aber was soll den Guten auch zusammenhalten. Nach über einem Jahr des Pendelns zwischen Krankenhäusern und meiner Wohnung sind Muskeln nur noch rudimentär vorhanden. Fettdepots sind nirgends zu sehen, von Sitzfleisch wollen wir schon gar nicht reden. Für mich ist das aber kein ästhetisches Problem sondern mehr eins der Bequemlichkeit. Nur auf der Pelle sitzt es sich nicht besonders komfortabel. Behandlungswürdig wird es aber erst, wenn mir mein Hintern beim Laufen gegen die Kniekehlen schlägt.

Bei meinen Spaziergängen ist das noch nicht der Fall. Die Runden, die ich um meinen Wohnblock drehe, ergeben in etwa eine Acht. Ich kann aber nur den oberen oder den unteren Kuller laufen. Die ganze Acht ist noch nicht drin. Dann würde ich es ja auch wieder zur Hansebibliothek schaffen. So haben mir die netten Damen die Ausleihfrist für die Bücher bis Ende Oktober verlängert.

Beim Durchsehen meiner Logdateien entdeckte ich, dass jemand offenbar meine größte Angst mit mir teilt. Daraufhin die entsprechenden Seiten bei Google anzuhopsen, erwies sich als keine gute Idee. Es deprimierte mich nur noch mehr, und ich musste heulen. Dummerweise hatte ich aber vergessen, dies ist meine Chemowoche. Bevor mir die Tränen kamen, verkrampften sich meine Augäpfel extrem schmerzhaft. Ich presste meine Hände dagegen und führte solcherart erblindet einen wilden Kriegstanz im Wohnzimmer auf. Diese Chemotherapie ist belastend, nicht mal heulen kann man, wenn einem danach zumute ist! Aber ich habe ja nur noch eine Chemo in der ersten Septemberwoche vor mir. Der kleine Mann war diesmal wieder nicht da. Ohne ihn ist es in der Onkologie doch äußerst langweilig, besonders wenn man die einzige Patientin ist.

Neben meiner großen Angst, die ich immer mit mir herumschleppe, gibt es eine weitere. Diese Verschlimmbesserung nennt sich Gesundheitsreform. Ich kann mir nicht sicher sein, dass ich die notwendigen Therapien und Medikamente auch künftig erhalten werde. Die Zuteilung hat schon begonnen. Eine Diskussion wie vor drei Jahren über die Entsorgung menschlicher Altlasten ist auf andere Art wiedergekommen. Es gab damals zu viel Empörung. Kulturzeit erklärte im Beitrag "Umsonst ist nur der Tod - Über das Sterben in Zeiten der Ökonomisierung" vom 10.07.2003: Zu leben muss man sich leisten können. Es wunderte mich nicht, dass die Debatten von angeblich unabhängigen Experten mit hübschen Titeln angeheizt worden war. Natürlich werden sie selbst oder ihre Familie nie in den Genuss der Segnungen kommen, die sie für den Normalbürger als zumutbar ansehen. Erörtert wurde am Ende des letzten Jahres die aktive Sterbehilfe. In Erinnerung ist mir noch eine alte Dame, die erklärte, wie nutzlos man als alter Mensch doch sei und wie angenehm die Sterbehilfe. Nun macht schon ihr Alten, hopst gefälligst über die Klinge! Ihr seit doch nur noch eine Last, für die Gesellschaft, eure Familie und euch selbst.
Ja, aber es drängt sich mir auch der Verdacht auf, dass es ein Kostenfaktor ist. Es klingt zynisch, aber aktive Sterbehilfe ist ökonomisch. Palliativmedizin ist teuer. Das wird kaum einer laut sagen, aber ich meine, es spielt eine Rolle.
Dr. Ute Heinicke, praktische Ärztin und Notfallmedizinerin

Der Mensch als Kostenfaktor sehr weit sind wir in Deutschland nicht gekommen. Das hatten wir in früheren Zeiten schon einmal. Die Wikipedia schreibt dazu:
In der Zeit des Nationalsozialismus wurde die Idee der Beendigung "lebensunwerten Lebens" in juristischen und medizinischen Fachzeitschriften offen diskutiert. Als grundlegendes Argument für diese "Zwangseuthanasie" wurden wirtschaftliche Gründe angeführt.
Wer seine medizinische Versorgung nicht selbst bezahlen kann, hat eben Pech gehabt. Der muss kostengünstig und tunlichst ohne zu murren das Zeitliche segnen. Die Rationierung der medizinischen Versorgung für Ältere ab 75 Jahren wäre nur der erste Schritt zur sozialen Euthanasie. Wenn sich alle daran gewöhnt hätten, dann wären als nächstes die Dialysepatienten dran. Ab dem Renteneintrittsalter wäre Schluss mit lustig. Zum 67. Geburtstag gäbe es noch eine letzte Blutwäsche sowie eine gleichzeitige Ehrentags- und Abschiedspartie am Krankenbett. Der Delinquent hätte dann noch etwa 14 Tage Zeit seine Angelegenheiten zu ordnen. Mit Krebspatienten könnte weitaus schärfer verfahren werden.
Im Grunde genommen ist die Chemotherapie und diese riesigen Apparate, mit denen Leute dann bestrahlt werden, das sind im Grunde genommen die Voodoo-Accessoires des 21. Jahrhunderts.
Das meint zumindest der Mikrobiologe und Seuchenexperte Prof. Alexander Kekulé in Quergefragt, ein ausgewiesener Fachmann in Sachen Tumorbehandlung. Dem Krebskranken und der Allgemeinheit würden dann auch teure Operationen erspart bleiben. Noch ein paar Schmerzpillchen bis zum Ende und schon würde ich und mit mir andere Tumorpatienten sehr kosteneffizient ableben. Wer dann selber schwer erkranken würde, für den wäre niemand mehr da, der für ihn einstehen könnte. Sie waren alle schon vorher billig gestorben.

Ihr meint ich übertreibe, und meine Phantasie ginge wieder einmal mit mir durch? Meine Lieben, seid Ihr Euch wirklich sicher, dass die Zukunft nicht so ähnlich aussehen könnte? Wer wird dann am Eingang des Krankenhauses stehen und entscheiden, ob ich mich ins Krankenbett oder zu den Blumen auf den Kompost legen darf? Natürlich bin ich nicht nur eine finanzielle Belastung für meine Krankenkasse sondern auch eine emotionale für meine Familie und Freunde. Die werden das aber aushalten müssen, denn ich werde mich nicht selbst entsorgen. Ich hänge recht zäh an meinem Leben.

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