Nordlichter
Kopf
Dienstag, 26. Oktober 2004
Deutscher Langmut
Dies hier ist immer noch ein freies Land und niemand wird mich zurückhalten, falls ich mit zwei Gleichgesinnten auf dem Marktplatz in Demmin gegen GATS, staatliche Überwachung, Sozialreform, Agenda 2010 oder gegen Krieg in irgendeinem Teil der Welt demonstrieren wollte.

Die Einwohner würden mitleidig lächeln und die Polizisten, immer vorausgesetzt da wären überhaupt welche, würden mich fragen, ob denn mit meiner Gesundheit alles im Lot ist. Das wäre auch schon alles, was mir passieren würde.

Die Politik dieser Republik wird noch immer in Frankfurt am Main entschieden und in Berlin verwirklicht.

Also stellte ich mich auch nicht mit einer brennenden Kerze in den Händen in Demmin im Marienhain auf, sondern fror, wenn auch nicht allein, in Berlin. Mit mir froren friedlich 499.999 andere Leute im Februar 2003. Wenn schon protestieren, dann richtig!

Ich glaube das war für lange Zeit Deutschlands größte Demonstration.

Warum also so zaghaft, deutsche Politiker? Vergesst nicht, dies sind die Deutschen und nicht die widerspenstigen Franzosen. Ihr könnt ihnen etwas über Sozialreformen erzählen und in Wahrheit Sozialabbau meinen, sie werden nicht protestieren. Die Franzosen streiken immer gleich aber nicht so die Deutschen. Ihre Schmerzempfindlichkeit ist viel höher.

Schon Heinrich Heine spöttelte:
Deutschland, wo nie ein König seinen Kopf verlor.
Denkt immer daran Politiker, von rechten Denkfabriken lernen, heißt siegen lernen. Na gut, zu DDR-Zeiten war das Motto: Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen. Ich habe den Werbespruch einfach wiederverwertet. Warum auch nicht?

Darum Politiker, Ihr müsst den Deutschen immer und immer wieder in allen Medien erklären, es wäre kein Geld vorhanden um den Sozialstaat zu retten, und sie müssten Opfer bringen. Es ist höchst vorteilhaft, wenn Experten mit hübschen Titeln solche Weisheiten verkünden. Die Deutschen halten sie für eine Art Propheten und werden ihnen trauen. Sie werden vergessen, Euch zu befragen, wer diese Experten bezahlt.

Deutschland, das Land der Dichter und der Denker? Es war einmal vor langer Zeit da war Deutschland ...

Also deutsche Politiker verliert nicht den Mut! Erhöht die Sozialabgaben der Deutschen, und sie werden nicht nachforschen, wem Ihr statt ihrer Geschenke macht.

Die DDR existierte ja auch immerhin vierzig Jahre, bevor ihre Einwohner mit den Füßen gegen sie stimmten. Apropos DDR, meint Ihr abgesehen vom grünen Pfeil wäre etwas wert im geeinten Deutschland bewahrt zu werden? Wie wäre es mit den niedrigen Löhnen und der längeren Arbeitszeit? Wenn die Ostdeutschen bewiesen haben, dass man fünfzehn Jahre nach der Wende damit überlebt, dann können die Westdeutschen das auch. Lasst uns dieses Experiment auf ganz Deutschland ausdehnen! Niedrige Löhne und lange Arbeitszeiten für alle Deutschen!

Und Politiker aufgepasst, es gibt gegenwärtig in Deutschland keine gesellschaftliche Kraft, die dagegen ankämpfen würde, weder die Gewerkschaft noch die PDS. Die SPD und die Grünen sind schon vor langer Zeit zu Parteien der großen Unternehmen und der Superreichen mutiert. Deshalb legt den Deutschen die Damenschrauben an, und zieht sie fest! Bei Bedarf könnt Ihr ganz zart mit Polen drohen, und der letzte Widerspenstige wird verstummen. Aber ich glaube, das wird nicht nötig sein.

Langmut ist nicht nur eine ostdeutsche sondern eine gesamtdeutsche Tugend. Das liegt in den Genen. Arthur Schopenhauer fühlte sich bemüßigt einige bösartige Bemerkungen über die Deutschen zu machen. Das gipfelte in eine Art Testament:
Ich lege hier für den Fall meines Todes das Bekenntnis ab, dass ich die deutsche Nation wegen ihrer überschwänglichen Dummheit verachte und mich schäme, ihr anzugehören.
Starker Tobak.

Und Joseph Beuys wollte nicht nur aus der Kunst, sondern gleich aus der ganzen Welt austreten. Leicht übertrieben. Wir wollen mal nicht überreagieren.

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Montag, 25. Oktober 2004
Deutschland einig Vaterland
Viele Deutschen tun sich etwas schwer mit dem Bekenntnis zu ihrem Vaterland. Ich bilde da keine Ausnahme. Deshalb habe ich mich ein wenig um das Schreiben dieser Seite herumgedrückt.

Zu DDR-Zeiten wurde das Problem derart gelöst, dass die Worte Deutschland, Deutsche und deutsch tunlichst vermieden wurden. Darum war es schon etwas Merkwürdiges als Fliegerkosmonaut Siegmund Jähn plötzlich als erster Deutscher im All bezeichnet wurde. Gewöhnlich waren die Bürger der DDR in ihren Medien alles andere, aber keine Deutschen. Für die real existierende sozialistische DDR begann ihre Geschichte erst mit der Gründung 1949. Sie fußte natürlich nur auf den fortschrittlichsten deutschen Traditionen, um all die negativen Erblasten sollte sich gefälligst die kapitalistische BRD kümmern.

In der bundesrepublikanischen Wirklichkeit gibt es dafür andere Probleme. Zum Beispiel die Verbindung von ehemalig und DDR. Dass die DDR- Vergangenheit ist, sollte inzwischen dem letzten ihrer Anhänger klar sein, und auch wir in der vorpommerschen Provinz wissen seit dem November 1989, dass die DDR aufgehört hat, zu existieren. Niemand spricht vom ehemaligen Deutschen Reich oder vom ehemaligen Heiligen Römischen Reich, klingt ja auch albern. Diese Reiche sind genauso Geschichte wie die DDR. Also liebe Politiker und Medienschaffende, warum sprecht Ihr immer noch von der ehemaligen DDR? Ihr befürchtet doch nicht etwa im Ernst, sie könnte wiederkommen? Die DDR war einmalig. Ihre Bürger sprachen immer von der größten DDR der Welt.

Die Unfähigkeit der Deutschen unbefangen über ihr Land zu reden, hat zum Teil etwas mit der Vergangenheit zu tun. Diese Vergangenheit wirft nur deshalb so lange Schatten, weil sie nach meiner Auffassung immer noch nicht richtig aufgearbeitet wurde. Dass dem so ist, könnt Ihr deutlich an der Affäre Hohmann sehen. Wer die Rede des Herrn Hohmann nicht kennt, kann sie hier bei Telepolis nachlesen .

Das eigentlich Erstaunliche an der Sache sind nicht nur die Anschauungen des Herrn Hohmann selber, sondern noch mehr der Standpunkt vieler, die meinen, wie in den Politsendungen "Frontal 21" und "Panorama" dargestellt, er habe doch nichts Schlimmes gesagt. Die Leute von "Frontal 21" haben daraufhin die Hohmannrede auseinandergenommen.

Aber das ist selten, in Deutschland gibt es keine politische Streitkultur, und eine Auseinandersetzung täte bitter Not, nicht nur in der CDU sondern im gesamten Land. Auf dem Höhepunkt der Möllemann-Affäre war im Guardian online zu lesen, dass in Deutschland vor lauter political correctness keine Diskussion zustande kommt, und jeder Ansatz dazu im Keim erstickt wird.

Natürlich haben die Briten mit dieser Ansicht recht. So was läuft in Deutschland immer nach dem gleichen Muster ab: Skandal, große Aufregung, Empörung und Betroffenheitsbekundungen der Politprominenz, Forderung nach Entschuldigung, Parteiausschluss des Verursachers. Man, sprich die Herren und Damen Politiker, kuriert die Symptome, aber nicht die Krankheit. Damit ist das Problem nicht vom Tisch, sondern nur zugedeckt, der nächste Mölle- oder Hohmann ist schon auf dem Weg.

Was ist mit den vielen CDU-Mitglieder, die die Überzeugungen des Herrn Hohmanns teilen? Wollen Sie die auch aus der CDU ausschließen Frau Merkel? Selbstverständlich sind das alles nur bedauerliche Einzelfälle.

Ich glaube, es war der Spötter Schopenhauer, der behauptete:
Die Deutschen haben die Regierung und die Politiker, die sie verdienen.
Aber diese Strafe hat kein Volk der Welt verdient, nicht einmal die Deutschen.

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Sonntag, 20. Juni 2004
Rochen spielen kein Tennis!
Am Wochenende war ich zum 60. Geburtstag eingeladen. Mein Auto hatte einen kleinen Defekt und fiel aus. Ich mußte mich auf das Abenteuer Bahnfahrt einlassen.

Demminer Bahnhof

Die Fahrkarte konnte ich bei einer freundlichen Dame einer DB-Agentur erwerben. Außer der Karte kann man bei ihr auch Knabberzeug und einige Zeitschriften kaufen. Für die fast dreistündige Bahnfahrt wählte ich die "Frankfurter Allgemeine Zeitung am Sonntag". Weder der Fahrpreis noch die Fahrdauer ist ein Argument für das "Unternehmen Zukunft".

Mit meinem kleinen, langsamen Auto käme ich doppelt so weit. In Berlin wäre ich auch viel schneller. Außerdem würde ich bequemer sitzen. Die Sitze im Regionalexpress waren eine Katastrophe für meine Bandscheiben. Für wen der Designer auch immer diese Möbel entworfen haben mag, für meinen Rücken jedenfalls nicht.

Innenansicht des RegionalexpressesAls Unterhaltungsprogramm lief "Big Brother live". Ein Reisender vor mir kanzelte seinen Gesprächspartner am Handy ab und gab ihm gute Ratschläge. Dann stieg eine Großmutter mit zwei Enkeltöchter ein. Der Teenager erzählte lautstark, was sie am vorrigen Abend denn alles so an harten Alkoholika in sich reingeschüttet hätte. Angeblich brauchte sie die Menge, sonst wäre sie zu gehemmt. Ich an ihrer Stelle wäre nicht enthemmt sondern scheintot.

Ein Mann setzte sich hinter mich und schaltete sofort sein Handy an. Auch ohne seine Unterhaltung zu folgen roch ich, wie er den gestrigen Abend verbracht hatte. Kampftrinken scheint in zu sein.

Das Erfreulichste an meiner Bahnfahrt waren zwei etwa vierjährige Mädchen, die dem Kampftrinker gegenüber saßen. Sie erzählten, sie wollten ins Aquarium. Der Herr hinter mir mochte ja ein Schluckspecht sein, aber mit Kindern konnte er umgehen. Die beiden Kleinen erzählten von Rochen, die ihnen angst machten, weil sie wie Fledermäuse im Wasser fliegen würden. Eine der beiden stellte dann fest, Rochen spielten kein Tennis.

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