Nordlichter
Kopf
Krabbeln mit Schmiege
Na endlich! Mein zusätzliches Zimmer ist fertig. Laut Merkblatt von meinem Vermieter darf ich keine Löcher bohren, nicht den Farbpinsel schwingen und nur transportable Wäschetrockner aufstellen, die nicht höher als die Brüstung sind. Aber immerhin darf ich meinen Balkon betreten. Der Bauarbeiter, der den Blumenkasten mittig montierte, sagte mir, ich bräuchte nur die zwei Muttern zu lösen. Dann könnte ich den Kasten an jede von mir gewünschte Stelle schieben. Dazu besteht im Moment aber keine Veranlassung. Ich kann wegen meiner geschwollenen Büffelhufe zwar kaum laufen, aber ich schleppte mich zuerst in den Keller um Pflanzgefäße und Blumenerde hochzuholen. Dann quälte ich mich zur Blumenhändlerin meines Vertrauens.

Balkonkasten mit HerbstbepflanzungMeine bevorzugten Farben für die Balkonbegrünung sind rosa, blau und gelb. Weiß passt immer dazu. Während die ersten drei Farben bei Tageslicht gut zur Geltung kommen, haben weiße Blüten ihren großen Auftritt in der Dämmerung. Meine Freundin hatte mir gesagt, ich dürfte mir für meinen Balkon eine Kübelpflanze aussuchen. Dann möchte ich natürlich ein Rosenhochstämmchen haben, entweder mit rosa, zartgelben oder weißen Blüten, die natürlich auch duften sollten. Für den Balkonkasten suchte ich aber etwas ganz anderes. Der Standort ist extrem und die Pflanzen müssen sowohl Hitze, Kälte, Regen als auch Wind trotzen. Die besten Kandidaten dafür sind Sedumhybriden, bekannt unter ihrem deutschen Namen "Fette Henne". Ich wählte Sedum telphinum "Herbstfreude", eine etwa 50cm hoch werdende Staude, und "Bertram Anderson", einen kriechenden Vertreter der Gattung. Ein Gewächs im Angebot erinnerte mich an eine Kübelpflanze aus südlichen Gefilden. Ich kaufte es wegen meiner Vorliebe für blaue Blüten. Im Internet konnte ich die Pflanze als Chinesischen Bleiwurz, Ceratostigma plumbaginoides, oder mit deutschem Namen Hornnarbe identifizieren. Eine Seite warnte vor mangelnder Frosthärte. Nun das kann ich diesen Winter ja testen. Das graugrüne Heiligenkraut, Santolina chamaecyparissus, und ein kräftig rosafarbenes Heidekraut komplettierten die Besatzung für den Balkonkasten. Natürlich war ich die erste, die ihren Claim bepflanzte. Inzwischen hat die Nachbarin unter mir nachgezogen. Sie hat je zwei weiße und zwei lilafarbene Eriken gesetzt. Pflanzen von nur einer Art kämen mir nicht in den Kasten. Vielleicht spricht sich unter den Wespen und ihren Verwandten, die im Ahorn neben meinem Balkon summen, herum, dass es im dritten Stock wieder was zu naschen gibt.

Mittlerweile ist fast eine Woche vergangen. Die Pflanzen scheinen gut angewachsen und zeigen neue Triebe. Nur das Heiligenkraut mückert vor sich hin und hat sogar vertrocknete Ästchen. Als Atheist sollte man auf so ein Gewächs nicht allzu sehr vertrauen. Da ich Jungpflanzen erworben habe, wird die volle Pracht mich erst im nächsten Herbst erfreuen. Die Nächte werden kühl, und morgens ziehen Nebelschwaden vom Fluss herauf. Die Sonne hat einige Mühe die Schleier fortzulecken. Auf den Pflanzen im Balkonkasten glitzern früh die Tautropfen. Die Pappel mir gegenüber zieht langsam ihr gelbes Blätterkleid über. Genauso machen es die vielen Ahornbäume rings ums Haus. Zum Schluss wird die Farbe ihrer Blätter in ein fantastisches Orange umschlagen, so als würden sie in Flammen stehen. Der Herbst ist wegen dieses Farbfeuerwerkes und der vielen reifen Früchte eindeutig meine liebste Jahreszeit.

Normalerweise würde ich mir die Spiegelreflex umhängen und auf Fotosafari gehen. Leider ist das nicht möglich. Inzwischen sind meine Füße und Fesseln dermaßen geschwollen, dass ich mich kaum noch ohne Schmerzen bewegen kann. Ich erwarte, dass meine Hufe irgendwann im laufe der nächsten Woche mit lautem Knall platzen werden. Da ich nicht gehen kann, krabbel ich mit dem Zollstock zwischen den Zähnen durch die Wohnung und mache Pläne. Meine ursprüngliche Version für den Balkon habe ich inzwischen verworfen. In der neuen Variante steht an der rechten Seitenwand eine Vitrine und links eine Komode, beide aus Kiefer und damit passend zu meiner Auslegung des Stils "Landhaus" und meiner übrigen Einrichtung. Dazu kommt ein kleiner Tisch mit Glasplatte und zwei zierliche Sessel aus Metall und Rattan. Damit ist noch Platz für eine schmale Liege. Wegen der Fensterdekoration werde ich meine Tante fragen. Ohne zu bohren, wird es schwer da irgendetwas anzubringen, aber ohne Blendschutz werde ich nicht auskommen. Für den Fußboden brauche ich einen Belag. Ich mag nicht auf dem nackten Beton rumhopsen. Im Wohnzimmer habe ich nun neben Fußbodenbelag und Stores einen neuen runden Esstisch und vier passende Sitzgelegenheiten geplant. Der Tisch soll ausziehbar sein, so dass man zu sechst bequem darum sitzen kann. Soweit meine Vorstellung, mich interessiert dabei herzlich wenig, was gerade angesagt ist. Ich halte es da mit dem französischen Designer Philippe Stark, der in "DuMonts großem Buch vom Einrichten" zitiert wird:
Es ist wichtig, seinen Lebensraum mit Liebe zu erfüllen. Es ist ungesund, seine Wohnung von einem Innenarchitekten gestalten zu lassen, weil es nicht gut ist in den Fantasien eines anderen Menschen zu leben. Die Menschen sollten selbst wählen und einer Wohnung ihre Persönlichkeit aufprägen.
Der Hausmeister kam und händigte mir den Schlüssel für die Fenster aus. Ich war entzückt. Da konnte ich gleich loslegen. Freie Sicht für freie Bürger! Ich bin begeisterter Fensterputzer. Es ist die einzige Hausarbeit, die ich gern tue. Durch meine Krankheit bin ich dazu nur nicht mehr so gut in der Lage. Der Invasion meiner Kusine bin ich ja glücklicherweise entronnen, aber damit blieben meine Fenster auch schmutzig. Mein Bruder hatte mir einen Fensterwischer mit ausziehbarem Stiel besorgt. Damit kann ich zwar meiner Lieblingshausarbeit nicht so ekstatisch frönen wie gewohnt. Aber ich konnte die Fenster im Wohnzimmer und Balkon wenigstens vom Baudreck befreien. Die Glasscheiben auf dem Balkon werden oben und unten verriegelt. Löst man das Schloß, lassen sie sich nach innen drehen. Für den oberen Riegel musste ich aber die Leiter besteigen, bei meinem leichten Höhenkoller nicht ganz unproblematisch. Es ging auch alles gut bis zum letzten Fenster. Beim Versuch das klemmende Schloss zu verriegeln, fiel ich rücklinks von der obersten Sprosse der Aluleiter. Eigentlich hätte ich mit der Rückseite auf den harten Betonfußboden aufschlagen müssen, Zeit zum Überlegen hatte ich keine. Meine Reaktion war aber nicht die einer Schwerkranken. So landete ich wohlbehalten, wie ich die Leiter heraufgestiegen war, auf meinen Füßen und in Socken. Mit dem rechten Arm hatte ich mich aufs Geländer abgestützt. Meine Reflexe scheinen noch genauso in Ordnung zu sein wie zu den Zeiten, als ich zweimal die Woche zum Training fuhr. Der Abflug brachte mir weder eine Delle, blutende Wunden, blaue Flecken noch andere Verletzungen ein. Schön, dass wenigstens was an meinem malträtierten Körper noch funktioniert! Verglaste Loggia mit Baugerüst