Nordlichter
Kopf
Alles wird besser, aber nichts wird gut.
Zumindest gibt es, was die Untersuchungsergebnisse betrifft, erstmal Entwarnung. Am Dienstag hatte ich einen Termin in der Sprechstunde, allerdings nicht bei dem für mich zuständigen Onkologen, sondern bei dessen Chef. Auf einen Termin bei meinem Arzt hätte ich noch lange warten müssen, was ich natürlich nicht wollte. Ich wollte endlich das Resultat erfahren. Mein Taxi erschien nicht zum vereinbarten Termin, telefonisch konnte ich auch niemanden erreichen. Es blieb mir nichts anderes übrig als im Krankenhaus anzurufen. Der Doktor war bereit mir die Befunde auch am Telefon mitzuteilen. Zu meiner Erleichterung hörte ich, dass das Röntgen nichts Auffälliges ergeben hätte. Ich beklagte mich, dass ich nach der zweiten Chemotherapie viel schwächer wäre, als nach der ersten. Der Arzt meinte, das wäre kein Wunder, schließlich hätten sie mir auch eine höhere Dosis verpasst.

Er erklärte mir, dass sich die Nebenwirkungen der Chemotherapie noch verstärken würden. Das hatte ich inzwischen selbst festgestellt. Ich habe das schmerzhafte Kribbeln nicht mehr nur in den Fingerspitzen, sondern es zieht bis in die Handflächen hinein. Die Feinmotorik ist beeinträchtigt. Um mir die Nägel kurzzufeilen brauche ich jetzt fast den halben Vormittag. Wenn ich die Tasse zu voll gieße, verschütte ich regelmäßig den Inhalt. Einen Schraubenzieher nehme ich im Moment besser nicht in die Hand. Mit Messern hantiere ich sehr vorsichtig. Aber solange ich noch die Tasten meines Notebooks treffe und in der Lage bin mein Headset aufzusetzen, will ich nicht jammern.

Dem Doktor erzählte ich deshalb, dass mich meine schmerzhaft aufgequollenen Füße weit mehr beeinträchtigen würde als meine Hände. Ich erhielt einen neuen Termin. Am 5. Oktober muss ich zur onkologischen Sprechstunde. Neben meinen Büffelhufen und meiner offensichtlichen Schlappheit beeinträchtigen die gehäuft auftretenden Durchfälle mein Wohlbefinden. Dagegen fällt kaum ins Gewicht, dass Mundhöhle und Zunge wie von einem Hammeltalgbelag überzogen scheinen. Ich muss schon kräftig würzen, damit nicht alles gleich schmeckt. Während ich nach dem Ende der ersten Chemotherapie merkte, wie es mir spürbar besser ging, ist jetzt genau das Gegenteil der Fall. Es geht mir schlechter, und ich werde schwächer. Das belastet mich nicht nur körperlich, sondern bedrückt mich vor allem emotional.

In meinem Artikel "Durchhänger" hatte ich noch über soziale Euthanasie spekuliert. Ich konnte nicht ahnen, dass die Wirklichkeit meine schlimmsten Befürchtungen bei weitem übertrifft. Am späten Dienstagabend lief auf Phoenix die Dokumentation Todkrank und abgeschrieben über die Zwei-Klassen-Medizin in Deutschland von Jan Schmitt und Marcel Kolvenbach. Ich sah sie mir aber erst um 14.00 Uhr am nächsten Tag an. Weise Entscheidung, ich glaube nicht, dass ich danach hätte schlafen können. Der Film berichtet über drei Patienten der Gesetzlichen Krankenkasse. Eine von ihnen, Julia Längsfeld, hatte Leberzirrhose. Ihre statistische Überlebenschance betrug 30 Prozent für die nächsten zwölf Monate. Helfen könnte ihr die MARS-Therapie. Das ist eine Art Blutwäsche für die Leber. Ihr Hausarzt hat so eine MARS-Maschine in seiner Praxis. Die Patientin erhielt fünf Therapien, es ging ihr spürbar besser. Dann musste der Hausarzt die Behandlung abbrechen, weil die Krankenkasse die Behandlungskosten nicht übernehmen wollte. Im Film zu sehen sind Privatpatienten, die die Therapie erhalten, die Julia Längsfeld verweigert wurde.
Seit Jahren behandeln wir jetzt Patienten mit dem Verfahren, meist Privatpatienten, denen die Therapie in aller Regel anstandslos bezahlt wird. Die chronisch erkrankten Patienten, die wir hier mit der Leberdialyse behandeln, dürften nach der Statistik eigentlich gar nicht mehr leben. Tatsächlich erfreuen sich aber alle bester Gesundheit. So könnte es auch Julia Längsfeld gehen.
Dr. Mandelartz, Hausarzt von Julia Längsfeld

Die Ehefrau des Arztes ist Rechtsanwältin, sie vertrat die Interessen von Julia Längsfeld. Sie meinte:
Hinzu kommt, dass jede Krankheit individuell verläuft. Beim einen hilft eine Therapie, beim anderen nicht. Die Krankenkassen können jedoch im Einzelfall außergewöhnliche Therapien bezahlen, wenn sie helfen. Für solche Fälle unterhalten die gesetzlichen Kassen den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK): Er soll feststellen, ob eine Therapie bei einem Patienten anschlägt oder nicht. Doch Ulrike Mandelartz macht eine andere Erfahrung: "Ich habe noch nie erlebt, dass der MDK eine Therapie befürwortet, die nicht im Leistungskatalog steht.
Der MDK lehnte die Therapie ab. Das Bayerische Sozialgericht entschied jedoch Julia Längsfeld soll ihre Therapie erhalten, aber in einem Krankenhaus. Sie kam in die Uniklinik München. Dort attestierte man ihr chronisches Leberversagen im Stadium 'Child C'. Das ist die Endstufe. Trotzdem wurde sie ohne Therapie nach Hause geschickt. Einer der verantwortlichen Ärzte erklärte im Radiointerview:
Ein Verfahren, "das 3000 Euro kostet, damit sich ein Patient etwas besser fühlt - ich meine nicht, dass die Gesellschaft das tragen kann ... Wir sind nicht dazu da, die Wünsche von Patienten zu erfüllen."
Mich hat diese Kaltschnäuzigkeit einfach nur entsetzt. Ich hoffe, dass ich niemals in meinem Leben in die Hände eines solchen "Doktors" falle. Zwar gibt es einen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Dezember 2005, der besagt dass keinem todkranken Patienten eine Behandlung verweigert werden darf, die Genesung oder Verbesserung verspricht, auch wenn die Methode noch nicht anerkannt sein sollte. Doch was nützt das, wenn in der Praxis nicht danach verfahren wird. Julia Längsfeld starb am 18. Mai 2006 in der Uniklinik Rostock.

Weder die Verantwortlichen von MDK noch der Krankenkasse wollten zum Fall Julia Längsfeld Stellung nehmen. Für mich ist das, was hier passiert ist, ganz einfach soziale Euthanasie und nichts anderes. Angesichts der Ungeheuerlichkeit dieses Geschehens muss eine Frage erlaubt sein. Jäger hängen ihre Trophäen an die Wände. Gibt es Bildergalerien mit den durch soziale Euthanasie zur Strecke gebrachten Patienten der Gesetzlichen Krankenkassen? Ich bin mir sicher, dass sie keine Statistik erfasst. Und nun verhandeln die Politiker über die neue "Gesundheitsreform", ich befürchte das allerschlimmste. Conny37 aus dem rheuma-online-Forum zog das drastische Fazit:
Nur ein toter Patient ist für die Krankenkassen ein guter Patient.
Wie Ihr wisst, bin ich krebskrank. Ihr könnt Euch sicher vorstellen, dass ich, nachdem ich diesen Film gesehen habe, nur geheult habe. Es fällt mir schwer, jetzt einfach wieder zur Tagesordnung überzugehen.