Nordlichter
Kopf
Kerben im Türrahmen
Nur noch sechsmal in der Onkologie erscheinen, dann bin ich durch. Endlich, endlich. Ich habe die Nase gestrichen voll von Operationen, Krankenhäuser und Therapien, das reicht für den Rest meines Lebens. Der Schwester habe ich am Montag gesagt, ich würde Kerben in meinen Türrahmen schnitzen. Am Beginn der Therapie habe ich es nicht getan, meine Türen sind nicht so groß.

In der Onkologie war es diesmal erstaunlich ruhig. Die Schwester erzählte mir, der kleine Mann hätte seinen Mund zu weit aufgerissen und müsste sich jetzt von einem Wespenstich erholen. So hatte ich meine Ruhe und döste still vor mich hin. Lesen mochte ich diesmal nicht. Am ersten Tag der Chemotherapie besucht mich immer ein Mitglied des Demminer Hospizvereins. Sie macht ihr Praktikum. Die Schwester aus dem evangelischen Kloster St. Marien in Verchen, die hier auch mit den Krebskranken spricht, hatte den Kontakt vermittelt. Sie sagte, die Praktikantin hätte einen Patienten gehabt, mit dem sie sich gut verstanden hätte. Aber dessen Ehefrau wäre eifersüchtig geworden. So ein Irrsinn! Diejenigen, die mir nahe stehen leiden schon genug an mir und meinem Krebs. Ich will und kann ihnen nicht alles aufbürden. Manchmal fällt es einfach leichter, mit einem Außenstehenden zu reden. Außerdem bin ich für jede Ablenkung dankbar, die ich während der Chemotherapie habe.

Wenn der kleine Mann anwesend ist, haben wir allerdings kaum Gelegenheit uns ungestört zu unterhalten. Er reißt sofort das Wort an sich und gibt es auch nicht wieder her. Ich wollte ihm nicht brutal in dasselbe fallen, weil er erzählte, er würde grübeln. Ich habe das schon nach meiner ersten Operation in der Intensivstation nicht getan. Mit Dingen, die ich nicht ändern kann, muss ich mich abfinden. Es bringt nichts mit dem Schicksal zu hadern. Ich nehme es an und stelle mich darauf ein. Das Ziel ist klar, wieder gesund werden. Alles was mich daran hindert, blende ich schlicht aus. Im Stoma-Forum gab es eine Diskussion, was wäre nach dem Tode. Ich habe mich daran nicht beteiligt. Überdies, das Danach ist nicht mein Problem, damit habe ich nichts mehr zu schaffen. Mich interessiert nur das Davor.

Über meine größten Ängste kann ich nach wie vor mit niemanden reden. Mir fällt keiner ein, bei dem ich sie einfach abladen könnte. Ich muss damit allein fertigwerden und sehen, dass die Angst mich nicht auffrißt. Höchste Zeit das Überlebenshandbuch für Systemadministratoren hervorzuholen und sich die Regel Nummer eins ins Gedächtnis zu rufen: Don't panic! Das gilt natürlich besonders für Systemadministratoren i.K., Systemadministratoren im Krankenstand.

Die Hitze hat ja zum Glück nachgelassen. Aber sobald in meinem Schlafzimmer die Temperatur unter 25°C sinkt, fange ich an trotz Federbett mit den Zähnen zu schlagen. Mitten im Sommer hat mich der Frost befallen. Ohne dicke Socken gehe ich nicht ins Bett. Mit kalten Füßen kann ich schlecht einschlafen. Fußbäder helfen mir nicht. Sobald ich meine Treter abgetrocknet habe, sind sie wieder eisig.

Mir ist übel und zur Abwechslung habe ich diesmal keinen blutigen Hintern sondern eine blutige Nase. Ich trau mich schon gar nicht mehr auszuschnauben. Das Nasenbluten lässt sich schlecht stillen. Es ist schon belastend, wenn es mich würgt und gleichzeitig rot aus der Nase tropft. Zum Glück lässt das Gewürge irgendwann nach. Durch die Übelkeit und die Kieferkrämpfe habe ich wieder Mühe etwas zu mir zu nehmen. Aus Angst weiter abzumagern, drängel ich mir alles rein. Meine Haut sieht aus, als sei mir dieser Anzug einige Nummern zu groß. Essen ist so aber keine Freude sondern eine Tortour. Jetzt ist meine Erholungswoche, und ich hoffe einfach, dass es mir da besser geht.

Als Nebenwirkung der Chemotherapie habe ich nicht nur schmerzhaftes Fingerkribbeln und gemeine Kieferkrämpfe. Ich leide auch an kalten Füßen. Nun krabbelt es zusätzlich unter den Fußsohlen. Ich laufe im Augenblick wie luftbereift. Am Sonnabend habe ich getestet, wie weit ich gehen kann. Ich bin nur bis zu Drogerie gekommen. Ich hatte anschließend Mühe mich und meine Einkäufe nach Hause zu schleppen. Bis zur Bibliothek würde ich es nicht mehr schaffen. Dass ich durch die Hitze nicht trainieren konnte, ist zu merken. Ich fange wieder ganz von vorne an. Zum wievielten Mal schon? Ich habe aufgehört zu zählen.