Nordlichter
Kopf
Freitag, 12. Januar 2007
Die Woche der Mediziner
Wow, das waren noch Zeiten, als ich außer meinem Hausarzt nur einen Zahn- und den Frauenarzt kannte. Inzwischen gibt es in drei Kliniken Akten über mich, und meine zahlreichen Gebrechen beschäftigen diverse Ärzte. In dieser Woche hatte ich gleich mehrere Termine und nicht nur im medizinischen Bereich.

Den Reigen eröffnete ein Besuch bei meinem Hausarzt am Montagmorgen. Vom Rentenversicherer hatte ich eine Aufforderung erhalten den Gutachter aufzusuchen. Mit dabei war ein Formular für die Übernahme der Fahrkosten. Vorgesehn war das aber nur für den eigenen PKW oder öffentliche Verkehrsmittel. Wegen meiner Beschwerden bin ich nicht in der Lage selber Auto zu fahren und habe auch niemand, der das für mich tun könnte. In die Kleinstadt, in der der Gutachter residiert, kommt man von Demmin aus nur mit dem Bus. Der fährt morgens nach neun los und am Nachmittag gegen dreiviertel drei zurück. Der Termin beim Gutachter war um halb zwölf. Ich rief in der Behörde an und fragte, wie man sich das vorstelle. Ich erfuhr, dass man meine Daten in den Computer eingegeben hätte. Der hätte dann die Adresse des Gutachters ausgespuckt. Über die Fahrerei machte sich der Rechenknecht keine Gedanken und der zuständige Mitarbeiter offensichtlich auch nicht. Ja, er schien noch nicht einmal meinen Rentenantrag gelesen zu haben. Dort hatte ich angegeben, meine Stuhlinkontinenz stünde einem Besuch beim Gutachter im Wege. Ich erhielt jedoch die Auskunft, der Fahrpreis für ein Taxi würde mir erstattet werden, wenn ein Arzt bescheinigt, dass ich keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen kann.

Diese Bescheinigung hätte mir mein Hausarzt auch so erteilt, aber das dürfte er nicht. Die Steuerbehörde wäre da sehr penibel. Es wäre eine Leistung, und diese müsste vergütet werden. Also werde ich die Quittung dafür zusammen mit dem Fahrpreis beim Rentenversicherer einreichen. Wenn sie schon auf so ein Schreiben bestehen, dann sollen sie auch die entstandenen Kosten tragen.

Dienstagvormittag kam der Liebste meiner Freundin vorbei. Falls er Probleme mit seinem PC hat, dann nahe ich als Retter in der Not. Im Gegensatz zu mir, der ein inzwischen zwei Jahre altes Aldi-Notebook für die meisten Belange reicht, ist er ein passionierter Spieler. Das erfordert ein ganz anderes Equipment. Er wollte seinen alten Röhrenmonitor gegen einen schnellen TFT-Schirm tauschen. Ich habe ihm quasi verboten sich so ein Gerät nur nach Werbeangaben zu kaufen, ohne im Internet nach Testberichten zu recherchieren. Er hielt sich daran. Das Bewerten der Tests überließ er dann doch lieber mir. Ich riet ihm von diesem Model ab.

Bei seinem anderen Problem konnte ich helfen. Er hatte das zehn Jahre alte Spiel Final Fantasy VII gekauft, das natürlich nicht kompatibel zu Windows XP ist. Im Netz fand sich ein Patch. Außerdem brannte ich ihm die neuste Version von Microsofts Application Compatibility Toolkit dazu. Insgesamt waren das 25 MB, für mich mit der Flatrate ein Klacks. Meine Freunde haben nur ein analoges Modem, da dauert das Ewigkeiten. Wenn sie große Dateien benötigen, dann lade ich sie ihnen herunter. Das ist nur ein kleines Äquivalent. Die Unterstützung, die sie mir während meiner Krankheit gaben, und noch geben, kann ich sowieso niemals zurückzahlen.

Dienstagnachmittag spazierte ich zum Demminer Kreiskrankenhaus. Früher hatte ich geglaubt, die Onkologie beschäftigt sich mit alten Menschen. Das könnte man leicht annehmen, denn die Patienten im Wartezimmer an diesem Nachmittag waren alle deutlich älter als ich. Ins Krankenhaus ging ich mit recht zwiespältigen Gefühlen. Die Termine in der onkologischen Sprechstunde sind für mich beständig angstbesetzt. Unwillkürlich kommt mir immer meine ganze Krankengeschichte hoch, die Operationen, die Bestrahlung, die Chemotherapien und deren Nachwirkungen sowie die von mir heißgeliebten Darmuntersuchungen. Diesmal packte ich mich auf die Pritsche, damit der Onkologe meinen Bauch sonographieren konnte. Das tut nicht weh. Ich musste nur die Luft anhalten und vermochte dadurch keinen Kommentar abzugeben, als der Doktor feststellte, mein Bauch ließe sich so schön ultrabeschallen. Gefunden hat er zum Glück nichts Verdächtiges. Den nächsten Angsttermin habe ich im April.

Am Mittwochmorgen wollte die Agentur für Arbeit unbedingt meine berufliche Situation mit mir bereden und mich zu ihrem Gutachter schicken. Der bleibt mir jetzt erspart, denn eine andere Behörde war schneller. Ich erhielt zwei Formulare zum Entbindung der Schweigepflicht für Ärzte und Rentenversicherer. Der Platz auf einem der Vordrucke war knapp bemessen. Allein der Name meines Rentenversicheres füllte schon die eine Zeile, in die ich außerdem noch die Adresse quetschen sollte. Blieb noch der Fragebogen zur Gesundheit. Auf diesem wurde ich darauf hingewiesen, dass alle Angaben freiwillig wären. Na, so freiwillig nun wohl auch nicht. Wenn ich die Auskunft verweigere, bekomme ich kein Geld, oder doch? Als erstes sollte ich meine gesundheitlichen Probleme schildern, wie oft denn noch? Die haben sich nicht geändert. Statt meine Ärzte aufzuzählen, schrieb ich nur, siehe Anlage. Schon für die Erwerbsminderungsrente hatte ich eine Liste mit den Krankenhausaufenthalten, den Ärzten und der Anschlussheilbehandlung zusammengestellt. Dieses Verzeichnis habe ich inzwischen vielleicht fünfmal ausgedruckt.

Mittwochmittag hatte ich einen Termin beim Gutachter der Rentenversicherung. Die Fahrt im Taxi führte über Dargun, auch bekannt als Stadt der tausend Gullideckel. Der Fahrspaß war ein wenig getrübt, weil die Deckel inzwischen eingeebnet sind. Zu DDR-Zeiten wurde man tüchtig durchgeschüttelt. Die Reise vom Ortseingangs- zum Ortsausgangsschild legten der Autofahrer und seine Besatzung auf den Sitzen hüpfend zurück. Der Gutachter hatte seine Praxis in einem Eigenheimviertel der nächste Kleinstadt. Gleich neben der Eingangstür hing ein Kalender mit dem fettgedruckten Spruch des Tages:
Die Antwort kann einem die schönste Frage vermiesen.
Wie wahr. Viele Fragen werden aus Furcht vor eben dieser Antwort erst gar nicht gestellt. Die Praxis war gut besucht, und ich musste warten. Ich hatte etwas Bammel, denn über ärztliche Gutachter hatte ich wenig erfreuliche Dinge gehört oder gelesen. Meine Befürchtungen waren aber unbegründet.

Ein Mann mit lichtem Haupthaar in Jeans und Troyer fragte mich, ob ich das Gutachten wäre. Das war der Doktor, der so ganz auf die übliche Uniform der Mediziner, den weißen Kittel verzichtete. Eine Uniform erzeugt immer einen gewissen Abstand zu den Nichtuniformträgern. Zwischen Arzt und Patient ergibt sich dadurch schon eine klare Distanz. Der Schauspieler Erol Sanders, Arztimitator in einer Fernsehserie, behauptete in einem Interview einmal, weiße Kittel wären sexy. Keine Ahnung, was Herr Sanders in seiner Freizeit für Doktorspielchen treibt, aber unter Erotik verstehe ich etwas anderes. Ich tue mir auch keine Arztserien im Fernsehen an. Medizin erlebe ich live, das reicht mir völlig. Vor den gestrengen Augen der Schwestern der Demminer Intensivstation fand auch nur eine einzige Sendung Gnade, Emergency Room. Alle anderen hätten mit der Wirklichkeit nichts zu tun.

In dieser Praxis hatte ich wieder die Wirklichkeit, lag mit freiem Oberkörper auf der Liege, und besonders mein Innenleben war beim Gutachter sehr gefragt. Er hatte den Monitor so gedreht, dass ich die Untersuchung verfolgen konnte. Meine Leber, die Nieren und die Aorta im Bauchraum aalten sich in der Gegend herum. Sie wurden per Schnapschuß auf den Monitor gebannt. Nur beim Herzen musste der Doktor mehrfach ansetzen. Er behauptete, ich hätte geschummelt und heimlich geatmet. Ich erwiederte, eine Ausbildung zum Tiefseetaucher sei von mir als Kranke nicht verlangt worden. Und wenn er sich nicht beeilte, hätte er bald eine gefrorene Patientin zu begutachten.

Nach der Ultrabeschallung schickte mich der Arzt zur Schwester für kleinere Untersuchungen wie Urin- und Zuckertest sowie Blutabnahme. In der onkologischen Sprechstunde am Vortag hatte sich die Schwester, weil sie mich lange Zeit nicht quälen durfte, freudig auf meinen linken Arm gestürzt. Hier nun wollte ich für den Vampirtest in den rechten Arm gebissen werden. Anschließend musste ich schon wieder den Oberkörper entblößen und aufs Rad steigen für das Belasungs-EKG. Die Schwester stoppte mein wildes Getrete. Am Monitor wurde nichts angezeigt. Mit einer anderen Schwester versuchte sie vergeblich das Programm zur Mitarbeit zu bewegen. Der Arzt trat hinzu. Mein Geburtsdatum und mein Gewicht wurden von ihm als Störfaktor identifiziert. Ich drohte derweilen diese Praxis nie wieder zu betreten. Als Patient würde man ja erfrieren. Nachdem der Doktor das Zimmer verlassen hatte, brachten die Schwestern ohne ihn ganz leicht das Programm in gang. Wer hier wohl der Störfaktor war? Ich überstand auf dem Rad schon die erste Erhöhung der Belastung nicht, genau wie in der Kurklinik. Durch meine Spaziergänge, hatte ich gehofft, hätte sich das geändert. Leider, nein.

Der Gutachter nahm sich noch die Zeit für ein abschließendes Gespräch. Meine Krankenakte auf CD verblüffte ihn. Da wäre ich die erste, die das in digitaler Form hätte. Ich wies den Arzt ganz sanft auf meinen Beruf hin, den er sich am Anfang des Gesprächs notiert hatte. Er überraschte mich dann seinerseits mit einer Frage. Der Doktor wollte wissen, wie ich die Krankheit seelisch verkrafte. Damit war er der erste Arzt, der sich seit der langen Zeit meiner Erkrankung um meine Psyche sorgte. Ich beschrieb mit der Hand eine Wellenlinie. Es fällt mir nicht immer leicht diese Krankheit zu ertragen und alles andere, was mir sonst noch im Leben passiert, mit dazu. Aber ich glaube, ich habe die für mich geeignete Bewältigungsstrategie gefunden. Bloggen und Podcasten ist ein Teil davon.

Zum Schluß wollte der Doktor eine fachliche Auskunft von mir. Als Systemadministrator ist man ja mit einem Helfersyndrom infiziert und muss sich da immer ein wenig zügeln. Das neue Ultraschallgerät war mit einem Brenner ausgestattet, so dass der Arzt die Bilder auch auf CD verewigen konnte. Er zeigte mir eine Spindel mit den Speichermedien. Ich riet ihm sich wenigstens Papierhüllen oder Kunstoffboxen und einen speziellen Faserstift zu besorgen. Ohne Beschriftung verliert man im Archiv leicht die Übersicht. Ich war erst nach drei Stunden gegen 14.00 Uhr wieder zu Hause. Das Mittagessen an diesem Tag entfiel.

Auch am Donnerstagmorgen hatte ich wieder einen Termin und ein angenehmes Gespräch noch dazu. Eigentlich war es mehr ein Monolog. Ich durfte ein wenig über mich, und was ich viel lieber tue, über Weblog, Podcast sowie die Blogoshäre reden. Dann wurde ich gefragt, was passiert wäre, wenn ich weder bloggen noch podcasten könnte. In dem Fall hätte ich wohl ein beträchtliches psychisches Problem. Eine Krebserkrankung ist immer mit großen Ängsten verbunden. Die schreibe ich mir hier so einfach von der Seele.

Den letzten Termin für diese Woche hatte ich heute, am Freitagmorgen. Der Phlebologe wollte auch im neuen Jahr einen Blick auf meine Hufe werfen. Die Schwester sagte mir, ich bräucht das nächste Mal keine engen Socken anlegen. Sie wollte unbedingt ein weiteres Beweisfoto für ihre Delinquentendatei von meinen Beinen schießen. Dringender Tatverdacht: Abschwellen der Lymphödeme. Als so genannte Erstausstattung erhielt ich noch ein Paar Kompressionsstrümpfe verschrieben. Das ist gut so, dann ist ein Paar in der Wäsche, das andere trage ich am Bein. Das Gewebe ist ja ein wenig dicht. Da kann ich nie sicher sein, ob die Socken auch am anderen Morgen trocken sind, wenn ich sie abends wasche. Dem Arzt, der mir neue Lymphdrainage verordnete, erklärte ich, er könne mir gleich zehn Anwendungen zuteilen. Die Therapeutin hatte mir verraten, dass die Zuzahlung dieselbe ist, ob ich nun sechs Behandlungen erhalte oder zehn. Ich bekam mein Rezept. Die neue Woche verläuft hoffentlich ruhiger als die jetzige. Bisher habe ich nur zwei Termine.

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