Nordlichter
Kopf
Donnerstag, 7. September 2006
Empfindsamkeiten
Am Freitag traf ich, als ich meine Post holte, meine Nachbarin und deren Tochter. Die Briefkästen sind so was wie der Marktplatz in unserem Aufgang. Der rechte Ort für ein Schwätzchen. Meine Nachbarin war noch vor mir ins Krankenhaus gegangen, dann wurde ich operiert. Seitdem hatten wir nicht mehr miteinander gesprochen. Jeder hatte genug mit seiner eigenen Krankheit zu schaffen. Vor einigen Wochen war ihr Mann bei einem Verkehrsunfall gestorben. Obwohl ich wusste, dass ich sie damit zum Weinen bringen würde, sagte ich ihr, wie sehr ich
das bedauere, und auch dass sie jetzt alleine sei. Inzwischen bin ich über ein Jahr krank, und habe davon 2 ½ Monate in Krankenhäusern verbracht. Mein eigenes Leid und das der anderen kann ich gut aushalten. Ich fürchte mich auch nicht davor, mich dem auszusetzen. Meine Nachbarin erzählte mir, dass sie zweimal am Kopf operiert wurde. Es fällt ihr deshalb schwer zu sprechen. Bei dem Verkehrsunfall, den ihr Mann nicht überlebte, zog sie sich mehrere Knochenbrüche zu. Sie fragte mich nach meiner Krankheit. Meine übergroße Magerkeit lässt sich schlecht kaschieren. Ich berichtete ihr von dem Darmkrebs. Meine alte Nachbarin legte mir die Hand tröstend auf die Schulter. Sie sagte, dass es ihr sehr leid täte, dass ich Krebs hätte. Ja, mir auch.

Es erschwert das Leben in jeder Beziehung. Inzwischen habe ich die 2. Chemotherapie hinter mich gebracht. Dienstagnacht durfte ich mich vorerst das letzte Mal an die Flasche mit dem Zytostatika anschmiegen, Kuschelfaktor 10- auf der nach oben und nach unten offenen Kuschelskala. Am Dienstagabend war mir auch so übel, dass ich grandios gereihert habe wie zu den Zeiten meiner schönsten Brechorgien während der ersten Chemotherapie. Nur diesmal schmerzte dabei nicht nur der Bauch sondern auch die Augäpfel. Ich hätte gut noch ein Paar Hände gebrauchen können. So presste ich das eine Paar, das ich habe, abwechselnd gegen den Bauch und die Augen, was das Spucken nicht gerade zu einer leichten Übung machte. Meine Mahlzeit besteht im Moment aus einem Brötchen morgens und einem Stück Apfelstreuselkuchen nachmittags. Ich kriege einfach nicht mehr runter. Zumal ich auch auf einen neuerlichen Brechanfall nicht scharf bin. Es tut einfach zu weh.

Am Montag muss ich zum Bauch-CT und meine Lunge röntgen lassen. Blut für die Untersuchung hat mir die Schwester schon abgezapft. Seitdem schlafe ich nicht mehr besonders gut. Das wird sich auch, bis die nächsten Woche vergangen ist, nicht ändern. Ich bin nicht nur mit der Therapie am Ende sondern auch mit meinen Kräften. Bildlich gesprochen krieche ich auf dem Zahnfleisch herum. Während ich die erste Chemo psychisch allein gemeistert habe, merke ich nun, wie meine Haut fühlbar dünner geworden ist. Eugen Roth hatte dazu folgende
Erkenntnis
Zwei Dinge trüben sich beim Kranken
a) der Urin, b) die Gedanken.
Eine neuerliche Chemo würde ich nicht durchstehen. Für psychische Problem bei Krebspatienten gibt es Spezialisten, Psychoonkologen. Ich hatte vor einiger Zeit Google deshalb bemüht. Aber weder bei den Unikliniken in Greifswald und Rostock noch bei der Klinik in Neubrandenburg konnte ich ein entsprechendes Angebot entdecken. Den nächsten Psychoonkologe gibt es in Berlin, das ist zu weit weg. Noch komme ich ganz gut klar, es fragt sich nur für wie lange. Ich hoffe, dass ich während der Reha einen guten Psychologen oder Psychotherapeuten finde. In der Onkologie hatte ich durch die Gespräche mit anderen Patienten so eine Art Gruppentherapie. Ich würde jetzt ein Einzelgespräch vorziehen. Meine größten Ängste möchte ich nicht in der Gruppe diskutieren. Meine Mitpatientin aus Greifswald sagte mir, sie würde an so was nicht teilnehmen, sie wäre nicht verrückt. Das bin ich auch nicht, jedenfalls nicht über das bei Systemadministratoren übliche Maß hinaus. Aber ich kann einschätzen, wann der richtige Zeitpunkt ist sich professionelle Hilfe zu holen, und der wäre jetzt.

Ansonsten bin ich immer noch schlapp. Die Nebenwirkungen der Chemotherapie lassen bis auf die Kieferkrämpfe überhaupt nicht mehr nach. Mittlerweile gehe ich mit meinen Füßen wie über das Nagelbrett eines Fakirs. Außerdem schwellen meine Beine den Tage über an. Zum Laufen sind sie nicht mehr gut zu gebrauchen. Im Märchen wurden die Finsterlinge immer langsam von den Füßen bis zum Kopf versteinert. Ich komme mir vor, als würde ich absterben. Bis kurz über den Hintern ist alles taub. Die Fliegen kreisen schon. Als Krebskranke und behindert bin ich natürlich kein Leistungsträger der bundesdeutschen Gesellschaft und gehöre damit keiner schützenswerten Spezies an.

Zumindest nicht beim Nordkurier, um die Schwächsten macht sich dessen Chefredakteur, Dr. Uzulis, wie stets in seinen Kommentaren keine Gedanken. Stattdessen schwafelte er am 30. August mal wieder etwas von Reformstau. Das Arbeitnehmerrecht würde Arbeitsplätze verhindern. Wie immer bleibt er den Beweis für seine Thesen schuldig. Dafür will Dr. Uzulis das Gesundheitssystem vom Kopf auf die Füße stellen. Wie soll das denn bitte aussehen? So wie ich es in meinen Artikeln "Doppelmarathon kurz vorm Ziel" und "Durchhänger" beschrieben habe? Wie die Bildung à la Uzulis aussieht, wissen wir ja inzwischen: Schulen und Unis privatisiert, Wissensvermittlung nur gegen harte Währung. Wer nicht über die notwendigen Finanzen verfügt, hat zumindest ein Privileg, er darf hübsch dumm bleiben. Als nächstes wettert der Herr Chefredakteur gegen das Antidiskriminierungsgesetz, das angeblich Bürokratien schaffen würde. Gemeint ist das AGG, das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, das am 18. August in Kraft trat. Diese Gesetz setzt EU-Richtlinien um, die in anderen EU-Ländern längst gelten. Über ausufernde Bürokratie in diesen Ländern ist nichts bekannt. Das AGG ist kein Gesetz, das Priviligierten wie Herrn Uzulis nutzen soll, sondern es soll Minderheiten schützen, so jemand wie mich etwa, krebskrank und behindert. Um das zu begreifen, müsste man aber eine Charaktereigenschaft wie Empathie sein eigen nennen. Was Dr. Uzulis so von sich gibt, ist das übliche neoliberale Gewäsch, getreu dem Motto: Steter Tropfen höhlt den Stein. Der Herr Chefredakteur hatte mir verraten, dass ich mit meiner Internetrecherche zu den Ausnahmen unter den Nordkurierlesern gehöre. Die meisten würden sich mit der Lokalzeitung und dem Fernsehprogramm begnügen.

Eine recht einseitige mediale Kost, die manchen so auf den Brägen schlägt, dass ihre Birne davon aufweicht. Sie halten dann eine dunkelbraune Götterdämmerung für den Silberstreif am Horizont. Was machen Politiker, wenn sie sich aus wahltaktischen Gründen in solch eine von allen guten Geistern verlassene Gegend verirren? Claudia Roth etwa, nomen est omen, rot gewandet und mit farblich abgestimmter Haarpracht war in Anklam um den Standort Deutschland bedacht. Dass sich Frau Roth etwa um das Wohl ihrer nordöstlichen Mitbürger sorgen würde, ist nicht überliefert.

Ständige Hörer meines Podcast Nachtgedanken werden bemerkt haben, an dieser Folge ist etwas anders. Es gibt jetzt am Anfang eine kleine Begrüßung und zum Schluss habe ich einen Musiktitel für Euch. Bis jetzt könnte sich bei Euch der falsche Eindruck festsetzen, ich stehe nur auf Musik alter und toter Rocklegenden. Queen das war meine Sturm-und-Drang-Zeit, und die liegt schon ein Weilchen zurück. Mein Tantchen erwartet ja immer noch mit steigendem Alter würde sich mein Musikgeschack grundlegend ändern. Da hofft sie aber vergebens! Wer in seiner Jugend auf Hardrock stand wird nicht plötzlich zum Fan der Volksmusik im Stil von Stefanie Hertel mutieren. Ich biete Euch mit der Schilderung meiner Krebserkrankung doch teilweise recht harte Kost an. Im Moment weiß ich auch nicht, wie es mit mir weitergeht. Es ist alles in der Schwebe. Musik, denke ich, schafft den notwendigen Abstand. Ihr könnt mir ja Eure Meinung dazu unter „ti Unterstrich Nordlicht ät web Punkt de“ mailen.

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