Nordlichter
Kopf
Donnerstag, 5. Januar 2006
Ein Krebs kommt selten allein.
Eigentlich sollte ich mich am 17. Januar in der onkologischen Sprechstunde einfinden. Gestern nun rief mich die Schwester an, ob ich nicht heute schon kommen könnte. Angeblich hätte der Doktor am 17. Urlaub. Komisch, bei mir auf Arbeit weiß jeder, wann der andere frei hat. Termine während des Urlaubs eines Kollegen werden nicht vergeben. Stimmen die sich im Krankenhaus denn nicht ab? Sehr merkwürdig.

Um nicht den Vormittag mit Warten zu verbringen, habe ich stattdessen meinen Rentenversicherer besucht. Gestern abend hatte ich einige Schwierigkeiten die Adresse im Internet zu finden. Seit diesem Jahr firmen sie unter einem anderen Namen. Aber das muss man erstmal wissen. Die alte Homepage existiert zwar noch, ist aber leer. Auf der neuen war keine Seite zu finden, die die Zweigstellen auflistet. Der alte Eintrag im Telefonbuch ist gelöscht, auf den neuen führt kein Hinweis. Warum sollte man es den Versicherten auch so leicht machen? Nur wer hartnäckig sucht, der findet auch.

Der Rentenversicherer hat sein Domizil hinter dem Drogeriemarkt. Im Fahrstuhl war an der entsprechenden Taste sogar ein Namensschildchen angebracht. Na also, es geht doch! Ich musste auch nicht lange warten. Eine nette Frau händigte mir die Formulare für die Reha aus. Einen Teil muss der Onkologe ausfüllen, den anderen ich selbst. Wenn ich Schwierigkeiten mit meinem Part hätte, würde sie mir beim Ausfällen helfen. Damit war ich entlassen.

Da ich schon mal dort war, ging ich gleich in den Drogeriemarkt. Ich habe leichten Schnupfen. Darum ist mal wieder eine neue Zahnbürste fällig. Am Regal mit den Duftwässerchen probierte ich diesmal Essenzen der Firma mit der Banane im Markennamen. Die erste Probe, die ich mir auf den Handrücken sprühte, duftete dezent frisch und angenehm. Die zweite dagegen roch stark penetrant und unerträglich. Ich fühlte mich wie in eine leicht muffelnde Nebelwand eingehüllt. Wenn ich einen unerwünschten Liebhaber verscheuchen wollte, hätte ich mit diesem Gemisch den vollen Erfolg. Jedenfalls schaute mich beim Bäcker ein mir unbekannter Mann so eigenartig an, als trüge ich mein Stoma nicht am Bauch sondern mitten im Gesicht. Wahrscheinlich hatte er nur eine empfindliche Nase.

Zurück von diesem Ausflug kam ich mir vor, als hätte ich einen Marathonlauf hinter mich gebracht. Ich musste mich auf meine Couch packen. Als Gesunde hätte ich bei meinem üblichen forschen Schrittempo 15 Minuten bis zum Drogeriemarkt gebraucht. Nun bin ich durch die Stadt geschlichen und trotzdem völlig fertig! Meine Ausdauer ist dringend verbesserungswürdig.

Je näher der Termin beim Onkologen heranrückte, desto nervöser wurde ich. Mein Taxifahrer war trotz des Sabotagebalkens pünktlich. Vom Warteraum der Notfallambulanz schickte mich eine Schwester nach oben in die Onkologie. Planmäßige Sprechstunde wäre heute nicht, sagte sie mir. Im Flur der Onkologie wartete ein älteres Ehepaar. Die Schwester bat mich, mich zu ihnen zu setzen, sie würde den Doktor holen. Im Flur war es recht frisch und ich erstarrte so langsam zum Eiszapfen. Das ältere Paar wurde zuerst zum Doktor gebeten. Die Tür zum Sprechzimmer gab dabei beim Öffnen oder Schließen Geräusche von sich, als wäre in dem Raum ein Windkanal installiert. Als das ältere Ehepaar das Zimmer wieder verließ, sahen sie sehr bedrückt aus. Ich hörte die Frau leise sagen, sie würde das nicht noch einmal durchstehen, das erste Mal ginge schon fast über ihre Kraft. Mir wurde noch kälter. Der Frost sollte mich auch den restlichen Tag nicht mehr verlassen. Wenn ich psychisch sehr angespannt bin, falle ich gewöhnlich in Winterstarre.

Dann wurde ich in den Windkanal gerufen. Der Doktor bestätigte meine Vermutungen, indem er mir erklärte, bei der Computertomografie am Montag wäre eine Metastase entdeckt worden. Ich antwortetet, das hätte ich schon gemutmaßt, wenn ich so kurz nach der CT ins Krankenhaus beordert werde. Außerdem hatte der Befund nach der Operation ja geheißen, dass fast alle Lymphknoten befallen waren. Das schrie richtig nach Tochtergeschwülsten. Der Doktor sagte mir, dass der Krebs sehr weit oben an der Leber säße. Dann erzählte er mir etwas über Planquadrate in meiner Leber. Für das Planquadrat, in dem mein Krebs residiert, ist das Kreiskrankenhaus Demmin nicht zuständig. Das ist Hoheitsgebiet der Uniklinik Greifswald oder des Krankenhauses Neubrandenburg. Das Ding muss raus, und demnächst liege ich wieder unterm Messer, diesmal vermutlich in Greifswald.

Wieder zu Hause telefonierte ich als erstes mit meinem Vater und seiner Lebensgefährtin. Ich sagte ihnen, ich riefe an, um ihnen den Abend zu versauen. Danach berichtete ich ihnen alles. Mit meiner Tante sprach ich anschließend. Aus meiner Großfamilie muss ich niemanden weiter anrufen. Der sippeninterne Informationsdienst läuft. Meiner Freundin habe ich vorhin eine SMS geschrieben. Mit allen anderen, die noch um mich bangen, den Freunden und Arbeitskollegen werde ich morgen reden.

Ob ich nun verzweifelt bin, weil ich immer noch Krebs habe? Nein, eigentlich nicht. Ich habe keine Schmerzen, muss mich nicht mehr übergeben, und es würgt mich auch nicht mehr. Ich bin nur noch etwas schlapp. Für die Schwere meiner Erkrankung geht es mir recht gut. Außerdem habe ich ein Netzwerk aus Verwandtschaft, Freunden und Arbeitskollegen, das mich auffängt. Hm, einiges habe ich in meinem Leben wohl richtig gemacht.

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