Nordlichter
Kopf
Freitag, 1. September 2006
Ti, das Bloggen und der Krebs
Am letzten Sonntag hatte ich abends einen Anruf aus Köln, und jemand fragte mich, ob ich denn Ti wäre. Der Kölner hatte nach Queensongs gegoogelt und war dabei über mein Blog und meinen Krebs gestolpert. Ti ist meine virtuelle Existenz im weltweiten Datennetz und nur ein kleiner Teil von mir. Auch wenn ich hier relativ offen über meine Krebserkrankung und meinen Umgang damit berichte, gibt es Dinge, die würde ich nie ansprechen. Wenn der kleine Mann mir etwas im Vertrauen erzählt, dann ist es bei mir gut aufgehoben. Es gibt Grenzen für mich. Hier ist nicht Big Brother. Ich will auch nicht ins Fernsehen und möchte mein Konterfei in keiner Zeitung abgebildet sehen. Im Blog landet nur, was ich jedem anderen auch so erzählen würde. Alles übrige gehört nicht hierher. Der Kölner befragte mich über meine Erkrankung, und war verwundert, dass ich am Telefon nicht wehleidig klang. Nun, Krebskranke jammern nicht 25 Stunden am Tag. Gewöhnlich haben sie besseres zu tun. Wir einigten uns darauf, dass er mich in zwei Jahren wieder anruft. Er wird dann 60.

Meinen Blogs verdanke ich die virtuelle Bekanntschaft mit Menschen, denen ich im realen Leben nie begegnen würde. Besonders freue ich mich natürlich über positives Feedback. Die letzte derartige E-Mail kam von Bomber auch aus Köln. Er hatte nach Kreuzspinnen gesucht und dann meine Krebsberichterstattung gelesen. Er teilte mir mit, dass er an einigen Stellen doch geschockt war. Aber mein Schreibstil gefiel ihm, und ich sollte unbedingt so weitermachen. Was ich natürlich gern tue.

Meine Freundin hatte mir erzählt, sie wollte mein Blog eigentlich nicht lesen. Denn sie würde meine Krankheit ja live miterleben. Uneigentlich liest sie dann aber doch. Blogs kann man ein gewisses Suchtpotenzial nicht absprechen. Die meisten Zugriffe habe ich aber nicht hier in Nordlichter sondern erstaunlicherweise im Podcast Nachtgedanken, der sich nur mit meiner Krankheit beschäftigt. Bei den letzten 10 Episoden hatte ich pro Folge etwa 70 Zuhörer. Wie sich meine Hörerschaft zusammensetzt, ob aus Krebserkrankten, deren Angehörigen oder einfach nur Leute, die anteilnehmen, ich habe keine Ahnung. Aber ich finde es schön, dass mir so viele zuhören. Mit diesem Blog und dem Podcast habe ich die Möglichkeit meinen Lesern oder Hörern Themen nahezubringen, die mich beschäftigen. Aber Macht habe ich damit selbstverständlich keine.

Über den Machtfaktor in Blogs macht sich Jazznrhytm in seinem Artikel "Blogs, Macht und der Unterschied zu den Vereinigten Staaten" Gedanken. Es ist das übliche Gejaule, in den USA wäre sowieso alles besser und überhaupt. Im Westen also nichts neues. Die Altersgrenze bei deutschen Bloggern setzt Jazznrhytm bei 40 Jahren an. Er outet sich damit nicht gerade als Kenner der hiesigen Bloggerszene. Der Liste der deutschen 50+Blogger kann ich ganz spontan zwei weitere hinzufügen den Schockwellenreiter und den Podcaster Friedrich Witt.

Blogger an die Macht! Aber was heißt schon Macht? Einige Firmen wie Jamba! an den Pranger zu stellen und sich daran aufzugeilen, es denen mal gezeigt zu haben? Das ist Pipifax. Am System ändert sich überhaupt nichts. Inzwischen machen hunderte andere Firmen immer noch das gleiche unsaubere Ding. Richtige Macht habe ich erst, wenn ich in der Lage bin, Gesetze durchzusetzen oder zu verhindern. Ich kann mich an keinen Fall erinnern, dass ein Weblog, wie prominent es auch immer sein mag, das je erreicht hätte, auch nicht in den USA. Wenn ich nicht will, dass ich mit meinem Krebs künftig unter die soziale Euthanasie falle, wird es nicht reichen ausschließlich dagegen anzuschreiben. Das schaffe ich nur, wenn ich mich einer Vereinigung anschließe, die meine Interessen vertritt. Ohne Lobbyismus läuft in der Politik bekanntlich nichts mehr. Blogger und HartzIV-Empfänger haben keine Lobby.

Die Amerikaner sind etwas sehr anders gestrickt als die Deutschen. Ihre beste und zugleich ihre schlimmste Eigenschaft ist ihre Begeisterungsfähigkeit. Als gelernter Deutscher ist man da doch etwas nüchterner veranlagt. Es gibt in den USA eine völlig andere Kultur der politischen Diskussion. In Deutschland haben wir stattdessen Sabine Christiansen und ihre Expertenrunde von der INSM. Die Amerikaner nutzen nicht nur ihre demokratischen Rechte, sie verteidigen sie auch. Aber um das zu sehen, muss man ja nicht unbedingt über den großen Teich gehen, schon ein Blick über den Gartenzaun in Richtung Frankreich genügt.
Es ist nicht so häufig, dass sich die Deutschen auflehnen gegen das, was ihnen von oben verordnet wird. Das obrigkeitsstaatliche Denken hat eine lange Tradition; oder, freundlicher formuliert, die Deutschen sind ein sehr geduldiges Volk.
Stellten Jan Fleischhauer und Christoph Schmitz vom Spiegel fest.

Dies spielt in Jazznrhytm Betrachtungen keine Rolle. Dafür hat er einen anderen Verantwortlichen ausgemacht. Ratet mal wenn, den deutschen Sozialstaat natürlich. Habt ihr etwas anderes erwartet? Na, da haben wir es wieder einmal, der Sozialstaat trägt an allem die Schuld. Der erstickt aber auch jede Eigeninitiative. Wenn mir die Krankenkasse künftig eine notwendige Operation verweigern sollte, und ich das auch nicht selber bezahlen kann, die Rettung naht! Vielleicht gibt es demnächst im Baumarkt billig Chirurgenbestecks zu kaufen, "Der kleine Operateur" mit Anleitung zur Darm-OP? Das Gesundheitswesen wäre entlastet, und könnte sich endlich den wirklich wichtigen Dingen im Leben widmen. Denn wahrscheinlich bringt es finanziell mehr ein, reichen eitlen Leuten den Hintern und einiges mehr zu liften als Krebspatienten der Gesetzlichen Krankenkasse zu versorgen.

Warum ich, um die Leute zu Blogs und sozialen Netzwerken zu treiben, nun ausgerechnet den Sozialstaat zerschlagen soll, erklärt Jazznrhytm nicht. Mein soziales Netzwerk hier im Nordosten der Republik funktioniert bestens. Meine Gewährsleute haben mir versichert, sie hätten so was auch schon im westlichen Deutschland gesichtet. Nur Jazznrhytm hat das wohl niemand gesagt. Solche Netzwerke gab es schon zu DDR-Zeiten, insofern ist das hier nichts neues. Man knüpft sein Rettungstuch besser bevor man es braucht! Ich konnte nicht ahnen, dass ich meins einmal so nötig haben würde. Mein Netzwerk wird auch durch mein Weblog zusammengehalten. Es ist meine Art mit der Krebserkrankung fertig zu werden und gleichzeitig eine Entlastung für mich. Ich muss so nicht hundertmal das gleiche erzählen. Aber alle wissen über meinen Krankheitsverlauf Bescheid und fragen mich nur noch, wie es mir gerade geht. Denn meine Tagesform kann eine völlig andere sein als die im Blog beschriebene. Bevor ich schwer krank wurde, wussten die meisten meiner Leute nicht, dass es so was wie Weblogs überhaupt gibt. Mein alter Vater hat in diesem Jahr einen Internetkurs in der Volkshochschule belegt. Er beschwert sich dann schon mal am Telefon bei mir, wenn ich nicht pünktlich zum Wochenende den neuen Artikel zur Krebsberichterstattung liefere. Die anderen liest er natürlich auch. Übrigens meine Leute kommentieren nicht in meinem Weblog, sondern rufen mich an. Aus dem einfachen Grund weil sie und ich das für persönlicher halten.

Mein netter Anrufer aus Köln jedenfalls hatte mir am Ende unseres Gesprächs das gewünscht, was ich mir trotz Krebs auch erhoffe, ein langes Leben. Das letzte Lied auf meiner Queen-Revival-CD ist das überaus bittere "The show must go on". Auch die nächste bitte nicht ohne mich!

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Samstag, 26. August 2006
Durchhänger
Keine Angst, meine Lieben, nicht ich hänge durch sondern eines meiner Körperteile, genauer gesagt mein Hintern. Wenn er sich nicht gerade in den eines Pavians verwandelt, ist es mir recht egal, was er hinter meinem Rücken so treibt. Aber letztens betrachtete ich im Spiegel meinen immer noch merkwürdig anzuschauenden, narbenverzierten Bauch. Doch etwas überrascht, stellte ich fest, ich kann auch meinen Hintern sehen. Ich erinnere mich nicht, dass ich das schon mal vorher konnte. Mein Hintern besteht nur noch aus Hautlappen. Aber was soll den Guten auch zusammenhalten. Nach über einem Jahr des Pendelns zwischen Krankenhäusern und meiner Wohnung sind Muskeln nur noch rudimentär vorhanden. Fettdepots sind nirgends zu sehen, von Sitzfleisch wollen wir schon gar nicht reden. Für mich ist das aber kein ästhetisches Problem sondern mehr eins der Bequemlichkeit. Nur auf der Pelle sitzt es sich nicht besonders komfortabel. Behandlungswürdig wird es aber erst, wenn mir mein Hintern beim Laufen gegen die Kniekehlen schlägt.

Bei meinen Spaziergängen ist das noch nicht der Fall. Die Runden, die ich um meinen Wohnblock drehe, ergeben in etwa eine Acht. Ich kann aber nur den oberen oder den unteren Kuller laufen. Die ganze Acht ist noch nicht drin. Dann würde ich es ja auch wieder zur Hansebibliothek schaffen. So haben mir die netten Damen die Ausleihfrist für die Bücher bis Ende Oktober verlängert.

Beim Durchsehen meiner Logdateien entdeckte ich, dass jemand offenbar meine größte Angst mit mir teilt. Daraufhin die entsprechenden Seiten bei Google anzuhopsen, erwies sich als keine gute Idee. Es deprimierte mich nur noch mehr, und ich musste heulen. Dummerweise hatte ich aber vergessen, dies ist meine Chemowoche. Bevor mir die Tränen kamen, verkrampften sich meine Augäpfel extrem schmerzhaft. Ich presste meine Hände dagegen und führte solcherart erblindet einen wilden Kriegstanz im Wohnzimmer auf. Diese Chemotherapie ist belastend, nicht mal heulen kann man, wenn einem danach zumute ist! Aber ich habe ja nur noch eine Chemo in der ersten Septemberwoche vor mir. Der kleine Mann war diesmal wieder nicht da. Ohne ihn ist es in der Onkologie doch äußerst langweilig, besonders wenn man die einzige Patientin ist.

Neben meiner großen Angst, die ich immer mit mir herumschleppe, gibt es eine weitere. Diese Verschlimmbesserung nennt sich Gesundheitsreform. Ich kann mir nicht sicher sein, dass ich die notwendigen Therapien und Medikamente auch künftig erhalten werde. Die Zuteilung hat schon begonnen. Eine Diskussion wie vor drei Jahren über die Entsorgung menschlicher Altlasten ist auf andere Art wiedergekommen. Es gab damals zu viel Empörung. Kulturzeit erklärte im Beitrag "Umsonst ist nur der Tod - Über das Sterben in Zeiten der Ökonomisierung" vom 10.07.2003: Zu leben muss man sich leisten können. Es wunderte mich nicht, dass die Debatten von angeblich unabhängigen Experten mit hübschen Titeln angeheizt worden war. Natürlich werden sie selbst oder ihre Familie nie in den Genuss der Segnungen kommen, die sie für den Normalbürger als zumutbar ansehen. Erörtert wurde am Ende des letzten Jahres die aktive Sterbehilfe. In Erinnerung ist mir noch eine alte Dame, die erklärte, wie nutzlos man als alter Mensch doch sei und wie angenehm die Sterbehilfe. Nun macht schon ihr Alten, hopst gefälligst über die Klinge! Ihr seit doch nur noch eine Last, für die Gesellschaft, eure Familie und euch selbst.
Ja, aber es drängt sich mir auch der Verdacht auf, dass es ein Kostenfaktor ist. Es klingt zynisch, aber aktive Sterbehilfe ist ökonomisch. Palliativmedizin ist teuer. Das wird kaum einer laut sagen, aber ich meine, es spielt eine Rolle.
Dr. Ute Heinicke, praktische Ärztin und Notfallmedizinerin

Der Mensch als Kostenfaktor sehr weit sind wir in Deutschland nicht gekommen. Das hatten wir in früheren Zeiten schon einmal. Die Wikipedia schreibt dazu:
In der Zeit des Nationalsozialismus wurde die Idee der Beendigung "lebensunwerten Lebens" in juristischen und medizinischen Fachzeitschriften offen diskutiert. Als grundlegendes Argument für diese "Zwangseuthanasie" wurden wirtschaftliche Gründe angeführt.
Wer seine medizinische Versorgung nicht selbst bezahlen kann, hat eben Pech gehabt. Der muss kostengünstig und tunlichst ohne zu murren das Zeitliche segnen. Die Rationierung der medizinischen Versorgung für Ältere ab 75 Jahren wäre nur der erste Schritt zur sozialen Euthanasie. Wenn sich alle daran gewöhnt hätten, dann wären als nächstes die Dialysepatienten dran. Ab dem Renteneintrittsalter wäre Schluss mit lustig. Zum 67. Geburtstag gäbe es noch eine letzte Blutwäsche sowie eine gleichzeitige Ehrentags- und Abschiedspartie am Krankenbett. Der Delinquent hätte dann noch etwa 14 Tage Zeit seine Angelegenheiten zu ordnen. Mit Krebspatienten könnte weitaus schärfer verfahren werden.
Im Grunde genommen ist die Chemotherapie und diese riesigen Apparate, mit denen Leute dann bestrahlt werden, das sind im Grunde genommen die Voodoo-Accessoires des 21. Jahrhunderts.
Das meint zumindest der Mikrobiologe und Seuchenexperte Prof. Alexander Kekulé in Quergefragt, ein ausgewiesener Fachmann in Sachen Tumorbehandlung. Dem Krebskranken und der Allgemeinheit würden dann auch teure Operationen erspart bleiben. Noch ein paar Schmerzpillchen bis zum Ende und schon würde ich und mit mir andere Tumorpatienten sehr kosteneffizient ableben. Wer dann selber schwer erkranken würde, für den wäre niemand mehr da, der für ihn einstehen könnte. Sie waren alle schon vorher billig gestorben.

Ihr meint ich übertreibe, und meine Phantasie ginge wieder einmal mit mir durch? Meine Lieben, seid Ihr Euch wirklich sicher, dass die Zukunft nicht so ähnlich aussehen könnte? Wer wird dann am Eingang des Krankenhauses stehen und entscheiden, ob ich mich ins Krankenbett oder zu den Blumen auf den Kompost legen darf? Natürlich bin ich nicht nur eine finanzielle Belastung für meine Krankenkasse sondern auch eine emotionale für meine Familie und Freunde. Die werden das aber aushalten müssen, denn ich werde mich nicht selbst entsorgen. Ich hänge recht zäh an meinem Leben.

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Samstag, 19. August 2006
Doppelmarathon kurz vorm Ziel
Wenn die Übelkeit geht, kehrt auch der Appetit langsam wieder. Die anderen Nebenwirkungen der Chemotherapie sind anhänglicher die Kieferkrämpfe, die Missempfindungen in den Fingerspitzen. Ich würde auch gern die Luft aus meinen Fußsohlen rauslassen, wenn ich denn wüsste wie.

Meiner Freundin habe ich erklärt, die beiden Chemotherapien gleich hintereinander kämen mir vor wie ein doppelter Marathonlauf. Sehen wir zu, dass aus dem Biathlon kein Triathlon wird. Im Moment fühle ich mich wie ein Läufer, der kurz vor dem Ziel zusammensackt und keinen Schritt mehr gehen kann. Nun gut, wenn ich nicht durchs Ziel laufen kann, dann krieche ich eben dorthin. Ich will in mein normales Leben zurück.

In einem Monat ist mein Seminargruppentreffen in Freiberg. Auch deshalb habe ich meine Spaziergänge wieder aufgenommen. Das fällt mir nicht leicht, und ich gebe zu, ich muss mich echt quälen. Meine Tante und mein Onkel, die am Mittwoch hier waren, versuchten mir die Fahrt ins Sachsenland auszureden. Sie sind sehr besorgt um mich und haben Angst, ich könnte mich übernehmen. Vielleicht haben sie recht, und diese Aktion geht wirklich über meine Kräfte, aber ich will unbedingt dorthin. Seit über einem Jahr sehe ich nichts anderes als Krankenhäuser. Ich will einfach nur raus.

Im Nordkurier, der angeblich so unabhängigen Tageszeitung Mecklenburg-Vorpommerns amüsierte mich Korrespondent Christoph Slangen mit seinem Kommentar "Abgetrotzt". Wobei er schlussfolgerte:
Allerdings ist die Aufrechterhaltung jedes noch so kleinen und defizitären Alround-Krankenhauses kein Ziel, das verfolgt werden sollte. Zwar muss eine Krankenhausversorgung auch in der Fläche gewährleistet bleiben, nicht aber zwingend im derzeitigen Ausmaß. Mit vielen Krankenhäusern, in denen unterbezahlte und überarbeitete Ärzte Dienst versehen, wären Patienten auch nicht gedient.
Je weniger Krankenhäuser es gibt, um so höher ist das Gehalt fürs medizinische Personal. Diese These ist natürlich von durchschlagender Logik. Abgesehen von Herrn Slangens offensichtlichen Defiziten in ökonomischen Belangen, scheint der Gute an keiner ernsthaften chronischen Krankheit zu leiden und auch niemand zu kennen, der das tut. Der Glückliche! Mitgefühl mit Schwächeren ist keine deutsche Tugend und sich in andere hineinzudenken schon gar nicht. Unter Journalisten, zumindest beim Nordkurier, scheint diese Eigenschaft nicht sehr weit verbreitet zu sein. Na gut, da kann ich nichts machen. Zumindest kann ich Christoph Slangen doch einiges über das Leben chronisch Kranker beibringen und ihm erklären, was es für mich bedeuten würde, wenn es das Kreiskrankenhaus in Demmin nicht mehr gibt. Denn ich sehe ihn da in seiner Vorstellungskraft deutlich überfordert.

Im letzten Jahr beschloss ich, den Wirtschaftsstandort Deutschland und meine Krankenkasse gehörig zu schädigen. Da ich sonst nichts Dringendes zu tun hatte, legte ich mir einen hübschen Mastdarmkrebs Stadium 3 zu. Mit dem Endstadium 4 wollte ich nicht gleich anfangen. Es wäre ja sonst keine Steigerung mehr möglich. Wie kommt man zu so was? Indem man nicht raucht, ein bisschen Sport treibt, wenig Alkohol trinkt und sich ansonsten gesund ernährt. Zumindest bei mir hat das tadellos geklappt. Meine Ärzte verstanden dagegen in Sachen Krebs keinen Spaß und schnippelten mir diesen samt einem Stückchen Darm und den befallenen Lymphknoten aus dem Bauch. Bei der zweiten Operation wollten sie unbedingt den Teil von meiner Leber mit der niedlichen Metastase haben. Meine versteinerte Galle gab es als Bonus dazu. Bei der dritten Operation planierten sie mir den Wanst und verschlossen den Bauchafter. Nun kann ich wieder auf die normale Art pupsen und auf den Topf gehen, allerdings manchmal mehr, als mir lieb ist.

Die Operationen sind die eine Seite, da kann ich mich noch mit abfinden, wenn sie 50 km von meinem Wohnort stattfinden. Die andere Seite ist die Therapie, die sich monatelang dahinzieht. Nach meiner ersten Operation war es Bestrahlung und Chemo im Doppelpack, nach der dritten noch eine Chemotherapie. Ich habe Glück, wenigstens die Chemo erhalte ich in Demmin. Für die Bestrahlung dagegen musste ich nach Greifswald. An manchen Tagen hieß das, früh in die Onkologie und nachmittags mit dem Taxi nach Greifswald. Die gravierendsten Folgen der Therapie sind für mich Übelkeit und Erbrechen. Jedes Mal wenn ich aus Greifswald zurückkam, ging mein erster Gang ins Bad, um mich zu übergeben. Ich hatte 32 Strahlungsbehandlungen. Das bedeutete 32-mal der Kampf gegen die Übelkeit und die berechtigte Sorge, dass die Stomaversorgung nicht dichthielt. Im Hochsommer litt ich zusätzlich unter der Hitze. Im Alltag einer Krebskranken passieren noch richtige Abenteuer. Ich wünschte, Herr Slangen wäre dabeigewesen. Er hätte mir wenigstens die Kotztüte halten können. Dann will dieser Mensch mir zumuten auch noch die Chemotherapie woanders zu erhalten. Die Chemo allein ist anstrengend genug. Ich muss die Last ja nicht noch durch eine lange Autofahrt künstlich verstärken.

Meine Mitpatientin aus Greifswald läßt sich für ihre Chemotherapie stationär in die Uniklinik einweisen. Sie ist nicht bereit sich die 85 km hin und anschließend die 85 km zurück in ihr Nest auf Rügen kutschieren zu lassen. Diese Fahrerei ist ihr zu qualvoll. So ein Weichei aber auch! Wie soll es mit Deutschland vorrangehen, wenn sich Krebskranke so gehen lassen? Herr Oettinger, seines Zeichens Ministerpräsident von Baden-Württemberg, hat darauf die richtige Antwort parat: zehnprozentige Zuzahlung der Patienten auf alle Behandlungskosten. Bravo, Herr Oettinger! Endlich werden die wahren Verursacher der Gesundheitsmisere zur Kasse gebeten. Krebspatienten und andere chronisch Erkrankte haben sich ihre Krankheit bekanntlich mit der vollen Absicht zugelegt, gemütlich in der sozialen Hängematte rumzugammeln. Wenn wir dann in Deutschland endlich amerikanische Verhältnisse haben, und ich mir meinen Krebs nicht mehr leisten kann, habe ich ja immer noch die Möglichkeit Aprikosenkerne zu zerkauen oder mich per Telepathie heilen zu lassen. Das Mittelalter läßt herzlich grüßen!

Bei solchen Kommentatoren und Politikern ist mir um den Wirtschaftsstandort Deutschland nicht bang. Was stört ist eigentlich nur noch die ganz normale, aus welchem Grunde auch immer, nichtarbeitende Bevölkerung, zu nichts nutze, ein Kostenfaktor eben. Aber das kriegen wir auch noch in den Griff! Die alte Dame mit dem Nierenkrebs hatte mich gefragt, was in früheren Zeiten mit uns beiden passiert wäre. Sie meinte das Mittelalter. Meine Antwort hatte gelautet, wir wären einfach gestorben. Wenn es nach Herrn Oettinger geht, ist das Mittelalter noch nicht vorbei, oder falls man auf den Hundt gekommen ist auch nicht. Sozialverträgliches Ableben heißt das in Neusprech.

Ja, der Nordkurier ist eine unabhängige Tageszeitung, unabhängig von Meinungen jenseits des Mainstreams. Ich kann dort heute schon lesen, was gestern noch bei Spiegel-Online stand. Eigene Schlußfolgerungen zu ziehen und die auch zu vertreten, gehören offensichtlich nicht zu den journalistischen Tugenden bei der führenden Tageszeitung im Nordosten Deutschlands. Papageiartiges Nachplappern der Losungen der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft und anderer Lobbyverbände ist angesagt. Wozu braucht's da eigentlich noch Journalisten? Ich hätte da zwei sehr talentierte Sittiche anzubieten. Sehr billig im Unterhalt, die sind im Gegensatz zu Vertretern der schreibenden Zunft nur mit Hirsekörnern, Kalkstein und Wasser zufrieden. Das können nicht einmal osteuropäische Tagelöhner unterbieten. Im Moment trainiere ich meine beiden Zimmergeier gerade darin die Tastatur des Notebooks zu bedienen.

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Montag, 14. August 2006
Kerben im Türrahmen
Nur noch sechsmal in der Onkologie erscheinen, dann bin ich durch. Endlich, endlich. Ich habe die Nase gestrichen voll von Operationen, Krankenhäuser und Therapien, das reicht für den Rest meines Lebens. Der Schwester habe ich am Montag gesagt, ich würde Kerben in meinen Türrahmen schnitzen. Am Beginn der Therapie habe ich es nicht getan, meine Türen sind nicht so groß.

In der Onkologie war es diesmal erstaunlich ruhig. Die Schwester erzählte mir, der kleine Mann hätte seinen Mund zu weit aufgerissen und müsste sich jetzt von einem Wespenstich erholen. So hatte ich meine Ruhe und döste still vor mich hin. Lesen mochte ich diesmal nicht. Am ersten Tag der Chemotherapie besucht mich immer ein Mitglied des Demminer Hospizvereins. Sie macht ihr Praktikum. Die Schwester aus dem evangelischen Kloster St. Marien in Verchen, die hier auch mit den Krebskranken spricht, hatte den Kontakt vermittelt. Sie sagte, die Praktikantin hätte einen Patienten gehabt, mit dem sie sich gut verstanden hätte. Aber dessen Ehefrau wäre eifersüchtig geworden. So ein Irrsinn! Diejenigen, die mir nahe stehen leiden schon genug an mir und meinem Krebs. Ich will und kann ihnen nicht alles aufbürden. Manchmal fällt es einfach leichter, mit einem Außenstehenden zu reden. Außerdem bin ich für jede Ablenkung dankbar, die ich während der Chemotherapie habe.

Wenn der kleine Mann anwesend ist, haben wir allerdings kaum Gelegenheit uns ungestört zu unterhalten. Er reißt sofort das Wort an sich und gibt es auch nicht wieder her. Ich wollte ihm nicht brutal in dasselbe fallen, weil er erzählte, er würde grübeln. Ich habe das schon nach meiner ersten Operation in der Intensivstation nicht getan. Mit Dingen, die ich nicht ändern kann, muss ich mich abfinden. Es bringt nichts mit dem Schicksal zu hadern. Ich nehme es an und stelle mich darauf ein. Das Ziel ist klar, wieder gesund werden. Alles was mich daran hindert, blende ich schlicht aus. Im Stoma-Forum gab es eine Diskussion, was wäre nach dem Tode. Ich habe mich daran nicht beteiligt. Überdies, das Danach ist nicht mein Problem, damit habe ich nichts mehr zu schaffen. Mich interessiert nur das Davor.

Über meine größten Ängste kann ich nach wie vor mit niemanden reden. Mir fällt keiner ein, bei dem ich sie einfach abladen könnte. Ich muss damit allein fertigwerden und sehen, dass die Angst mich nicht auffrißt. Höchste Zeit das Überlebenshandbuch für Systemadministratoren hervorzuholen und sich die Regel Nummer eins ins Gedächtnis zu rufen: Don't panic! Das gilt natürlich besonders für Systemadministratoren i.K., Systemadministratoren im Krankenstand.

Die Hitze hat ja zum Glück nachgelassen. Aber sobald in meinem Schlafzimmer die Temperatur unter 25°C sinkt, fange ich an trotz Federbett mit den Zähnen zu schlagen. Mitten im Sommer hat mich der Frost befallen. Ohne dicke Socken gehe ich nicht ins Bett. Mit kalten Füßen kann ich schlecht einschlafen. Fußbäder helfen mir nicht. Sobald ich meine Treter abgetrocknet habe, sind sie wieder eisig.

Mir ist übel und zur Abwechslung habe ich diesmal keinen blutigen Hintern sondern eine blutige Nase. Ich trau mich schon gar nicht mehr auszuschnauben. Das Nasenbluten lässt sich schlecht stillen. Es ist schon belastend, wenn es mich würgt und gleichzeitig rot aus der Nase tropft. Zum Glück lässt das Gewürge irgendwann nach. Durch die Übelkeit und die Kieferkrämpfe habe ich wieder Mühe etwas zu mir zu nehmen. Aus Angst weiter abzumagern, drängel ich mir alles rein. Meine Haut sieht aus, als sei mir dieser Anzug einige Nummern zu groß. Essen ist so aber keine Freude sondern eine Tortour. Jetzt ist meine Erholungswoche, und ich hoffe einfach, dass es mir da besser geht.

Als Nebenwirkung der Chemotherapie habe ich nicht nur schmerzhaftes Fingerkribbeln und gemeine Kieferkrämpfe. Ich leide auch an kalten Füßen. Nun krabbelt es zusätzlich unter den Fußsohlen. Ich laufe im Augenblick wie luftbereift. Am Sonnabend habe ich getestet, wie weit ich gehen kann. Ich bin nur bis zu Drogerie gekommen. Ich hatte anschließend Mühe mich und meine Einkäufe nach Hause zu schleppen. Bis zur Bibliothek würde ich es nicht mehr schaffen. Dass ich durch die Hitze nicht trainieren konnte, ist zu merken. Ich fange wieder ganz von vorne an. Zum wievielten Mal schon? Ich habe aufgehört zu zählen.

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Dienstag, 8. August 2006
Baustellen
Mein Hintern hatte sich am Wochenende zurückgemeldet, um mir mal wieder zu beweisen, wer hier der Boss ist. Ich habe die Befehlsgewalt über meine Rückseite immer noch nicht erlangt. Also muss ich machen, was mein Hintern will. Wenn's im Darm rumort, muss ich sofort lossprinten. An solchen Tagen verwische ich ohne Probleme schon mal mehr als eine Rolle Toilettenpapier. Das Resultat dieses exzessiven Gebrauchs lässt nicht lange auf sich warten. Meine Rückseite gemahnt an einen Pavian und ist hübsch entzündet. Mit blutigem Hintern kann ich nur auf meinem bequemen Ledersofa richtig hocken. Bloggen ist da aber schlecht möglich, deshalb folgt das sonntägliche Statement erst heute.

Ich habe Befürchtungen vernommen, ich könnte die Lust an meinen Weblogs verlieren. Meine Lieben, diese Ängste sind völlig unbegründet. Bloggen, ob als Schreibe oder Audio, gehört inzwischen genauso zu meinem Leben wie Essen und Schlafen. Ich kann das gar nicht mehr abstellen. Selbst wenn ich "Six feet under" liegen sollte, wird mir einer auf die Finger schlagen müssen, damit ich dann aufhöre zu bloggen. Eins ist aber auch Fakt, ohne meine Krankheit wäre ich nie zum leidenschaftlichen Blogger und Podcaster mutiert. Muss ich meinem Krebs jetzt auch noch dankbar sein? Also, wenn Ihr hier nicht wie üblich den Sonntagsartikel vorfindet, ist das kein Grund zur Besorgnis. Ich bin nun mal immer noch krank. Jeder Tag hält neue Überraschungen bereit, und Planung ist schlecht möglich. Ich habe mich daran gewöhnt.

Endlich ist die große Hitze vorbei, und ich kann wieder so richtig essen. Bei der Wärme hatte ich keinen Appetit und musste mir regelrecht alles reindrängeln. Trotzdem, ich hungere nicht, auch wenn ich aussehe, als sei ich essgestört. Bei mir hungern höchstens die Obstfliegen. Ich hatte heute ja wieder Chemo. In der Onkologie hätte ich auch die Möglichkeit Mittag zu essen. Das Essen im Demminer Kreiskrankenhaus ist wirklich gut, aber ich verzichte dennoch. Am ersten Tag ist mir meistens mehr oder weniger übel. Ich mag dann kein Mittag. Heute war ich auch erst nach 14 Uhr aus der Onkologie zurück. Ich habe gerade mal eine Tomate gegessen. Ich war viel zu kaputt und bin einfach nur ins Bett gekraucht. Zwei Stunden, ohne Unterbrechung, dauerte mein Mittagsschläfchen. Danach hatte ich aber ordentlichen Hunger. Deshalb habe ich mir ein Brötchen überbacken, belegt mit Butter, Saftschinken, Tomatenketchup, Schnittkäse sowie Tomatenscheiben und gewürzt mit Worcestersoße. Ich denke, es ist an der Zeit für ein Beweisfoto.



Jeder, der mit mir spricht, endet gewöhnlich mit dem Appell, ich sollte doch endlich wieder essen. Verdammt nochmal, ich esse! Was kann ich dafür, dass nichts hängen bleibt?

Ganz oben auf meiner Wunschliste steht ein Esszimmer. Was liegt also näher als meinen zukünftigen, verglasten Balkon in ein solches zu verwandeln? Kaum war die Sperrholzplatte entfernt, hüpfte ich schon mit Zollstock auf mein neues Zimmer um maßzunehmen. Von Hause aus bin ich ja Betriebsprojektant. Es spielt aber keine Rolle, ob man nun eine Fabrikhalle einrichtet oder die eigene Wohnung. Am Anfang steht immmer die Egon-Olsen-Methode "Ich habe einen Plan!". Im Projektantenjargon heißt dieser Layout und der Maßstab ist 1:50. Ich hatte mir drei Varianten ausgemalt, eine klassische, eine moderne und eine im Landhausstil. Die ersten beiden Varianten entfielen wegen zu geringer Abmessungen, blieb also die letzte. Im Landhausstil oder mehr in dem, was ich dafür halte, ist meine Wohnung eingerichtet. Mit Laura Ashley hat das überhaupt nichts zu tun. Ich mag Holz, Kork, Rattan und Leder. Ins künftige Esszimmer kommt deshalb ein stabiler Tisch aus dunklem Holz, Rattanstühle und eine schmale, dunkle Holzbank. Es wäre auch noch Platz für eine Kommode. Meinem Vati habe ich erzählt, was ich mir als Fensterdekoration vorstelle. Er darf sich schon mal einen Kopf machen, wie er das dann anbaut. Mein Vati findet das völlig in Ordnung.

Normalerweise läuft das immer so ab. Ich denke mir etwas aus, Vater und Bruder können dann zusehen, wie sie das hinkriegen. In mein breites Bücherregal für meine Computersachen haben sie mir erst letztens zwei neue massive Kieferbretter eingebaut. Nun kriege ich alles unter auch meine externe Festplatte. Die musste ich aber erstmal ins Gehäuse einbasteln, was nicht weiter schwierig war. Die externe Festplatte wird über USB mit dem Notebook verbandelt. Neckischerweise leuchtet dann eine blaue Lampe, die auch den Zugriff anzeigt. Inzwischen habe ich alle meine Fotos dort gespeichert. Ins Web habe ich genau 1.325 Bilder gestellt. Auf der Platte sind es natürlich viel mehr. Zusätzlich habe ich die Fotos von der Hochzeit, an der ich ja leider nicht teilnehmen konnte. Ich habe mich bereiterklärt daraus Alben zu basteln, die man sich dann auch via Fernseher anschauen kann. Das wird mich eine Weile beschäftigen. Viel lieber retuschiere ich aber Uraltfotos der Großeltern oder anderer Sippenmitglieder. Das macht schon Spaß, wenn aus einem vergilbten, zerknitterten Foto wieder ein richtiges entsteht. Ich habe da noch drei zuliegen, die auf eine Bearbeitung warten.

Mein Reisejournal habe ich inzwischen von Sunlog auf Movable Type umgestellt. Sunlog wird nicht mehr weiterentwickelt und das Charlotte-Forum ist geschlossen. Meine anderen Weblogs laufen unter MT. Es lag also nahe auf diese Software umzusteigen, besonders weil ich beim Reiseblog mit Subkategorien arbeite. Alle Texte sind eingearbeitet, die Links und Bilder muss ich noch ergänzen. Ich werde darüber gesondert in der Rubrik "Blogs und mehr" berichten. Die Direktverlinkung auf meine Fotos, die mir außer Traffic nichts einbringt, habe ich jetzt auch unterbunden. In den anderen Weblogs werde ich das noch nachbasteln.

Wie Ihr seht, meine Lieben, habe ich außer meinem Balkon noch andere Baustellen zu beackern. Langeweile kann dabei nicht aufkommen.

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Sonntag, 30. Juli 2006
Jubel, Trubel
Könnte mal irgendjemand die Hitze abschalten, bitte! Die Wärme macht mir mehr zu schaffen als die Chemotherapie. Ich muss mich wieder ab und zu aufs Bett legen wie am Anfang meiner Erkrankung. Im Augenblick geht es mir nicht so toll, und ich habe einen kleinen Durchhänger.

Am Dienstag hatte ich den selbstverständlich nicht. Ein Online-Händler gratulierte mir per E-Mail zu meinem 31. Geburtstag. Charmant, charmant. Nun etwas viel älter bin ich an diesem Tag schon geworden. Immerhin habe ich am Dienstag eine Schallmauer durchbrochen. Im letzten Jahr wurde ich genau an meinem Geburtstag aus dem Krankenhaus entlassen. Meine Freundin und ihre kleine Tochter hatten mich abgeholt. Mäuschen schenkte mir einen Glücksstein, der mir helfen soll den Krebs zu überwinden. Der Kiesel liegt jetzt auf dem Fensterbrett neben einem Bernstein. Den hat mir der Sohn einer Arbeitskollegin vermacht, damit ich wieder gesund werde.

Als klar wurde, dass mein runder Geburtstag mitten in die Chemotherapie fällt, habe ich die geplante Feier abgesagt. Es wäre der zweite Nichtgeburtstag in Folge. Den harten Kern meiner Familie konnte ich freilich nicht abschrecken. Die Eltern haben ja noch gefragt, ob sie trotzdem kommen sollen. Mein Bruder und mein Neffe haben einfach festgelegt, wir sind da. Um mich nicht ganz zu stressen, wollen Onkel und Tante mich an einem anderen Tag besuchen. Um Viertel vor zwei war ich samt Flasche mit dem Zytostatikum um den Hals von der Chemotherapie zurück.

Die Ersten, die eintrafen, waren meine Arbeitskollegen, unsere große Chefin im Schlepptau. Ich bat einen meiner Kollegen, den Sekt aus dem Kühlschrank zu nehmen, zu öffnen und den Inhalt in die Gläser zu gießen. Bei mir hätte die Kälte bloß wieder schmerzhaftes Fingerkribbeln verursacht. Während meine Kollegen auf mein Wohl anstießen, hielt ich mich selbst an grünen Tee. Seit meiner ersten Operation vor über einem Jahr habe ich keinen Alkohol mehr getrunken. Ich kann nicht behaupten, dass mir das fehlen würde. Meine Chefin betrachtete die Bauarbeiter, die das Gerüst mit nacktem Oberkörper heraufkletterten, und stellte fest, ich hätte eine schöne Aussicht. Es klang ein wenig neidisch. Ich sagte ihr, dass ich die Herren schon beäugt hätte, als sie am Nachbareingang herumturnten. Mein Balkon nimmt so langsam Gestalt an. Ich verkündete meinen Arbeitskollegen, dass ich gedenke, mein neues Zimmer mit ihnen einzuweihen. Einer schaute schon gleich nach dem Stellplatz für den Grill.

Die Chefin dachte an die Zeit zurück, als wir beide noch zusammen im Elektromotorenwerk arbeiteten. Wie jung wir damals waren, sie sah an sich hinunter, und wie schlank. Von mir behauptete sie, ich wäre schon immer so ein spackes Gehopse gewesen. Das ist natürlich eine böswillige Unterstellung. Die Kollegen fragten mich, wie ich mich fühlen würde. Durch die Chemotherapie und die Hitze im Moment wie 87. Dann traf meine Familie ein, und die Arbeitskollegen verabschiedeten sich.

Meinen Bruder musste erstmal los und Kuchen beim Bäcker in der Innenstadt holen. Das konnte ich nicht selbst. Wegen der Hitze halte ich mich nur in meiner Wohnung auf. Die Spaziergänge habe ich vorerst eingestellt. Wenn ich abklappe, hilft es mir nicht. Meine Leute hatten gesagt, ich sollte mir keinen Kopf machen. Sie würden alles Notwendige schon besorgen. Die Letzte, die an diesem Tag eintraf, war meine Freundin.

Zum Abendbrot hatte ich einen Nudelauflauf geplant. Ich esse ja lieber Kartoffelauflauf, aber mein Neffe ist ein Nudelfan. Wenn er dabei ist, koche ich immer für eine Person mehr. Schließlich soll der Junge bei mir satt werden und nicht hungern. Ich hatte am Tag vorher Rinderhack gekauft, das die Verkäuferin frisch für mich zubereitete. Am Abend desselben Tages vermengte ich es mit Gewürzen und Pinienkernen und briet es an. Das Durcharbeiten des Gehacktem mit der Gabel erwies sich als Schwerstarbeit. Üblicherweise hätte ich die Hand zum Kneten benutzt, aber wegen der Nebenwirkung der Chemo, schmerzhaftes Fingerkribbeln bei Kälte, verbot sich das von selbst. Die Hauptarbeit am Auflauf übernahm Jutta. Sie schnippelte Zucchini, Tomaten und Mozzarella klein. Dann fettete sie die Form, schichtete erst die Nudeln, danach das Gemüse mit dem Rinderhack. Die oberste Schicht bildet der Mozzarella. Mir blieb nur das ganze zu würzen, Milch mit Schlagsahne und Eier zu verquirlen, es über den Auflauf zu gießen und alles in den Ofen zu schieben. Im Elektroherd bei Umluft und 160°C brauchte der Auflauf eine dreiviertel Stunde. Das Rezept gibt es bei Gelegenheit. Auflauf ist immer eine gute Idee, wenn man nur wenig Aufwand treiben kann.

Die Eltern hatten sich im Hotel nebenan einquartiert, mein Bruder und mein Neffe blieben bei mir. So hatte ich meine Familie auch am nächsten Morgen da. Jutta und mein Vati fuhren zurück nach Berlin. Mein Bruder und mein Neffe starteten zu einem Ausflug an die Ostsee. Sie hätten mich gerne mitgenommen, aber mir war es einfach zu anstrengend. Mein Bruder und mein Neffe kehrten erst am Donnerstag nach Berlin zurück. So hatte ich an zwei Tagen frische Brötchen und brauchte auch nicht allein frühstücken. Schön. Bevor die Zwei in Richtung Heimat zurückfuhren, kauften sie für mich ein und nahmen mir auch im Haushalt einige Arbeiten ab.

Für einen Nichtgeburtstag war es eine schöne Feier. Ich danke natürlich auch Euch, meine Lieben, für die guten Wünsche per Telefon, Brief, E-Mail und SMS. Wo wäre ich ohne Euch?

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Montag, 24. Juli 2006
Mir bleibt auch nichts erspart.
Großes Ungemach droht über mich hereinzubrechen.

Mein Tantchen hatte mir ein Päckchen mit selbstgemachter Marmelade und Schokolade geschickt. Die Marmelade deshalb, weil ich, wenn überhaupt, nur selbstgemachte esse, und die Schokolade, damit ich etwas auf die Rippen kriege. Obwohl in dieser Hinsicht ja alle Mühe im Augenblick vergebens ist. Ich bin schon begeistert, wenn ich nicht abnehme.

Meine Tante hatte mir geschrieben, dass sie am Wochenende bei meiner Kusine ist. Jener Kusine, über deren Kochkünste ich mich im letzten Absatz meines Artikels Rückschläge so fürchterlich gegruselt hatte. Also rief ich dort abends gegen halb acht an, um zu sagen, dass alles wohlbehalten angekommen war, und um mich zu bedanken. Nach ihrer Mutter wollte auch meine Kusine mit mir sprechen. Zu meiner Erleichterung überlegte sie es sich jedoch anders. Sie wollte in einer halben Stunde mit mir telefonieren. Ich rechnete nicht damit, dass sie zurückrief, und schaltete um neun das Telefon aus. Leider vergaß ich, auch mein Handy abzuschalten. Gegen zehn war dann meine Kusine am Handy und beschwerte sich, dass ich nicht zu erreichen wäre. Ich schaltete mein Telefon wieder ein.

Wir sprachen dann etwa eine dreiviertel Stunde miteinander. Wir haben das lange nicht getan. Obwohl sie es versprochen hatte, hat sie mich vorher nicht angerufen. Ich selber kann sie so gut wie nie erreichen. Meistens ist sie unterwegs. Sie bot an, als Buße vor mir auf den Knien herumzurutschen. Ich sagte ihr, das wäre wohl das Mindeste, was ich verlangen könnte.

Meine Kusine erzählte mir, sie hätte einen vertrauenswürdigen Heiler. Er praktiziere Heilung per Telefon. Was es nicht alles gibt! Sie hätte ihn auch gefragt, ob er mir helfen könne. Er sagte ihr, er könne nur jemand heilen, der an ihn glauben würde. Ich würde das nicht tun. Korrekt bemerkt und kein Geheimnis. Für meine Kusine ist das ein Beweis für seine Integrität, für mich nicht. Für Telefonheilung wird mich niemand begeistern können. Was ich von solchen Heilungen halte, und wem ich vertraue, steht überdeutlich in diesem Blog.

Dann hörte ich, was ich befürchtet hatte. Meine Kusine drohte mir, mich im August zu besuchen. Ich habe ihr mit deutlichen Worten gesagt, was ich von ihrer Kochkunst halte. Jeder andere wäre tödlich beleidigt, und würde nie mehr mit mir sprechen. Meine Kusine leider nicht, es wird sie nicht davon abhalten hier einzufallen. Das Positive an der Sache, die Fenster in meiner Wohnung würden nach acht Monaten endlich einmal wieder geputzt werden. Aber was wird aus mir? Auswandern kommt wegen der Hitze nicht in Frage. Ich könnte mich ja im Keller verbarrikadieren. Dort ist es schön kühl aber auch sehr ungemütlich. Außerdem ist es dort so staubig, dass ich befürchten muss, mir neben meinem Krebs noch weitere unangenehme Krankheiten einzufangen. Was mache ich nun? Die Kochkünste meiner Kusine tapfer ertragen? Ich habe hier in diesem Blog schon an anderer Stelle verkündet, ich bin nicht folterresistent. Bleibt mir darum nur, als Schutz für meinen Magen eine kleine Unpässlichkeit zu simulieren, und mich an dem besagten Wochenende von Tee und Brot zu ernähren. Na dann, prost Mahlzeit. Ich habe ja die schwache Hoffnung, meine Kusine könnte sich wieder erkälten. Dann hätte ich noch einmal Glück gehabt.

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Sonntag, 16. Juli 2006
I want it all!
Die Hitze der vergangenen Tage machte nicht nur mir zu schaffen. Der kleine Mann, der beteuerte, ich wäre sein Sonnenschein, lag träge auf seinem Sessel. Die meiste Zeit der Therapiesitzung schlief er, ohne zu schnarchen. So hatte ich ausnahmsweise mal meine Ruhe.

Wir hatten einen neuen Mitpatienten, der, wie er erzählte, Fernfahrer bei einer holländischen Firma ist. Sein Chef betrachtet ihn als Mensch und nicht als Kostenfaktor. Von Entlassung wegen seiner Erkrankung ist keine Rede. Ich berichtete, wie meine Arbeitskollegen sich seit über einem Jahr um mich kümmern. Der Normalfall ist das wohl nicht. Der Patient lebt jetzt ohne Magen. Bei einer Routineuntersuchung wurde der Krebs bei ihm gefunden. Wie bei mir war dann nach der ersten Therapie eine Metastase festgestellt worden. Er hat daran stark zu knapsen und bejammerte die ganze Zeit, dass seine Pläne damit zunichte sind.

Was hilft es sich an Dingen aufzureiben, die man doch nicht ändern kann? Ich hatte ja auch gedacht, ab Sommer könnte ich wieder arbeiten. Die große Geburtstagsfeier ist abgesagt. Ich fahre schon das zweite Jahr nicht in Urlaub sondern nur ins Krankenhaus. Was würde es mir bringen, dem Vergangenen oder dem was wäre wenn nachzutrauern? Ich brauche mein bisschen Kraft für andere Dinge. Die zweite Chemotherapie durchzustehen, ist erst einmal wichtiger. Geburtstage feiern, arbeiten gehen und in Urlaub fahren kann ich danach ja immer noch.

Ich habe in der Drogerie eine CD mit alten Queensongs erstanden. Leider nicht mit der Originaltruppe sondern mit einem Freddie-Mercury-Imitator. Der Kraft der Songs tut das keinen Abbruch. Die Musik von Queen ist genauso, wie ich mich im Augenblick fühle, sehr lebendig. Die ersten vier Titel würde ich so unterschreiben, „We are the Champions“, „Don’t stop me now“, „We will rock you”. Besonders der vierte Song „I want it all and I want it now.” Ist mir aus der Seele gesprochen. Aber wie das so ist beim Alleswollen, es ist immer noch mehr, als ich im Moment verkrafte. Das Ende vom Lied ist dann, dass ich auf dem Sofa hocke und japse. Leider kann ich nur einen Teil von dem erledigen, was ich eigentlich möchte.

Auch zum Podcasten bin ich nicht so recht gekommen. Ich leider wieder unter schmerzhaften Blähungen. Die Winde finden den Ausgang nicht und kollern durch meinen Bauch. Der Tatverdacht der Folter ist gegeben. Ich kann schlecht ins Mikro sprechen, wenn's mir in den Darm kneift. Das andere Problem ist meine große Müdigkeit. Für mich ist soviel schlafen nicht typisch. Ich brauche morgens jetzt noch länger als sonst, um überhaupt in Gang zu kommen. Nachmittags spätestens um 14.00 Uhr beginnen meine Augenlider verstärkt zu klappern. Ich kann der Erdanziehung nichts mehr entgegensetzen und sinke ermattet auf mein Bett. Zu meiner Verwunderung schlafe ich so gut wie immer. Welches Tier hält sonst noch seinen Winterschlaf im Sommer? Es ist zu befürchten, dass die nächsten Podcastepisoden nur noch aus Gähnen bestehen. Dann könnt Ihr sie ja immerhin als Einschlafhilfe benutzen.

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Montag, 10. Juli 2006
Jahrestage
In London gedachte man am Freitag dem Terroranschlag am 7. Juli im letzten Jahr. Ich hatte am Tag zuvor einen ganz anderen Jahrestag. Meine Tante und meine Arbeitskollegin erinnerten mich daran, dass ich am 6.7. vor einem Jahr das erste Mal auf einem Operationstisch lag. Sie hatten es beide nicht vergessen.

Ich weiß noch, dass ich an dem Morgen, als ich samt Bett nach unten gefahren wurde, ganz ruhig war und auch keine Angst hatte. Meine helle Panik war von mir gefallen, als ich am Vortag ins Krankenhaus einzog. Allerdings stand ich am Abend vor der Operation doch ein wenig unter Schock. Die Nachricht, dass ich Krebs hätte, verpasste mir keinen Schrecken mehr, denn das hatte ich mir inzwischen gedacht. Entsetzt war ich eher von der Aussicht, demnächst mit einem Stoma, einem künstlichen Darmausgang, leben zu müssen. Und ich sollte schon am nächsten Tag operiert werden. Uh, das hatte mir keiner gesagt. Die alte Dame in meinem Zimmer erzählte mir von ihrer Schwester, die schon viele Jahre mit einem künstlichen Darmausgang lebte. Sie selbst war wegen eines Tumors an der Niere operiert worden. Sie fragte mich, was mit uns beiden in früheren Zeiten passiert wäre. Wir wären einfach gestorben, war meine Antwort. Ich hatte mich an diesem Abend für das Leben entschieden. Also Augen zu und durch, egal was alles kommt.

Nachdem mich der Anästhesist in die Dunkelheit geschickt hatte, verschwamm der Rest des Operationstages im Nebel. Ich wachte in der Intensivstation auf, ohne zu wissen, ob es Tag oder Abend war umgeben von Infusionen, Überwachungsmonitor und piepsenden Gerätschaften. Ich sehe immer noch das Gesicht der Schwester vor mir, die sich dort als erste um mich kümmerte. Rechts am Bauch bemerkte ich einen riesenhaften Einkaufsbeutel, den ich vorerst kräftig zu ignorieren versuchte. Mein Ziel war, wieder auf die Beine zu kommen und raus aus der Intensivstation. Inzwischen bin ich noch zwei Operationen, eine Bestrahlungs- und fast zwei Chemotherapien weiter. Ich bin seit über einem Jahr krankgeschrieben und werde es noch eine Weile sein. Den Beutel bin ich unterdessen los. Als ich nach der Rückverlegung die Nase von den vielen Toilettengängen gestrichen voll hatte, wünschte ich mir mein Stoma zurück. Vor einem Jahr wäre mir dieser Wunsch völlig absurd erschienen.

Ich war vor meiner ersten Operation nie in einem Krankenhaus gewesen und bis auf einen Bandscheibenvorfall auch nie für längere Zeit krank, und dann gleich so was. Mein Aufenthalt im Kreiskrankenhaus Demmin und besonders in der Intensivstation ist mir deshalb auch lebhafter in Erinnerung als die späteren in der Uniklinik Greifswald. Nachzulesen oder zu hören ist das alles ja in diesem Blog. Mein Bedarf an Operationen und Krankenhausaufenthalte ist für alle Zeit gründlich gedeckt.

Nur noch zwei Monate und dann habe ich auch die gesamte zweite Chemotherapie durchgestanden. Dieses Mal ging es mir weniger gut als bei der letzten Chemo. An die Aktivitäten, die ich vor zwei Wochen getrieben habe, wäre jetzt nicht zu denken. Für mich bedeutet das ganz einfach, wenn ich etwas unternehmen will und mich auch dazu in der Lage fühle, dann muss ich es gleich tun. Aufschieben gilt nicht. Mein Tatendrang beschränkte sich in dieser Woche auf meine Wohnung. Ein Brot habe ich zwar nicht gebacken aber dafür die erste Pizza aus eigener Produktion in den Herd geschoben. Gegessen und für gut befunden, Fazit: nie wieder Tiefkühlpizzen! Ich bin sogar auf meinen Hometrainer geklettert und ein wenig herumgeradelt. Wenn meine Chefin das erfährt, dann steht sie kurz vorm Herzinfarkt. Sie sieht mich bei meinen Unternehmungen immer zusammenbrechen und hilflos auf dem Boden darniederliegen. Ach, was. Wenn ich nicht mehr kann, dann zieht es mich eh auf mein Sofa.

Mehr als die Folgen der Chemo macht mir aber im Moment die Wärme zu schaffen. So langsam habe ich Mühe die Temperatur in der Wohnung unter 25°C zu halten. Alles was darüber liegt, ist meinem Körper leicht abträglich. Mein Kreislauf und ich, wir mögen keine hohen Temperaturen. Sonst ist gelegentliches aus den Latschen kippen gewiss. Die nachmittägliche Siesta fällt jetzt etwas länger aus. Mein Hausarzt, dem ich meine Probleme mit der Wärme schilderte, sagte er fände es unsinnig, wenn die Deutschen in der größten Hitze ackerten wie die Kaputten. Es wäre gesünder, sich wie die Leute im Süden zu verhalten. Er würde am liebsten jetzt die Sprechstunde auf den späten Abend verlegen so von 21-24 Uhr. Schlafen könne man eh nicht. Ich glaube kaum, dass sich das durchsetzt, obwohl ich keine Probleme damit hätte, um 23 Uhr in die Spätsprechstunde zu gehen. Schließlich bin ich keine Lerche, sondern eine Eule.

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Montag, 3. Juli 2006
Rückschläge
Ich weiß, meine Lieben, ich bin spät dran. Aber es hat mich gestern einfach aus der Bahn geworfen. Deshalb erfolgt das übliche sonntägliche Statement aus der Krankengruft erst heute.

Nachdem ich meinen Magen gestern morgen um das Nichts, das er enthielt, noch weiter erleichtert hatte, konnte ich Frühstücken abschreiben. Mir war einfach zu übel. Ich kroch also wieder ins Bett und döste dort bis um 15.00 Uhr still vor mich hin. Dann versuchte ich es mit einer großen Tasse schwarzen Tee. Die Verweildauer des Tees war recht kurz bemessen. Anschließend durfte ich mein Bad putzen. Das erste Mal feste Nahrung und wieder Tee konnte ich am frühen Abend zu mir nehmen. Wie ich unter diesen Umständen an Gewicht zulegen soll, ist mir schleierhaft.

Dabei ging es mir während der ersten beiden Tage meiner Chemotherapie ganz gut. Der kleine Mann lauerte in der Onkologie schon ungeduldig auf mich. Ich wäre die einzige Frau, die ihn hätte wartenlassen, behauptete er. Meine Frisur gefiel ihm. Er erzählte mir von den Problemen, die er in seiner Partnerschaft hätte. Seine Freundin würde sich nicht so richtig zu ihm bekennen. Er hatte den Eindruck, sie würde sich von allen möglichen Leuten beeinflussen lassen, von ihrer Mutter, ihren Kindern und sogar von ihrem Vermieter. Außerdem würden sie beide sich meist nur einmal die Woche sehen. Das sei ihm zu wenig. Das kann ich verstehen. Der kleine Mann bedeutete mir, er hätte seiner Freundin erklärt, er würde sich anderweitig umsehen, falls sich in ihrer Beziehung nichts ändern würde. Zu mir gewandt meinte er, ich sollte mir auch wieder jemand suchen. Ich sagte ihm, das würde ich auch tun, wenn ich dies alles hier glücklich durchgestanden hätte. Neugierig wollte er von mir wissen, auf welchen Typ Mann ich stehe. Ich sah keine Veranlassung, ihm das zu verraten. Also forschte er weiter, ob unter meinen Exfreunden jemand mit seiner Statur gewesen wäre. Meine Antwort fiel eindeutig aus, nein, kein einziger. Als ich am Mittwoch das Zimmer in der Onkologie betrat und erzählte, dass mein Tag mit Brechen begonnen hatte, wollte der kleine Mann mich am liebsten zu sich nach Hause mitnehmen, um mich zu bemuttern. Die Schwester erinnerte ihn daran, dass er in diesem Fall wohl Ärger bekäme. Seine Freundin würde das kaum tolerieren.

Das Brechen sollte nicht das einzige Übel für mich an diesem Tag gewesen sein. Nachmittags gönne ich mir immer ein Mittagsschläfchen. Das ist der große Unterschied zu meinem gesunden Leben. Da habe ich das so gut wie nie getan. Wenn ich jetzt nach dem Mittag immer auch einnicke, dann brauche ich das wohl. Am Mittwoch bin ich aber nicht zum Schlafen gekommen. Es rumorte heftig in meinem Bauch. Ich sprang mit einem Satz aus dem Bett und war trotzdem zu langsam. Auch ein Sprintweltmeister hätte es nicht rechtzeitig geschafft. Für den Ernstfall habe ich immer eine Packung Einwegwaschlappen und meine Waschmaschine. Ich traute mich danach nicht einmal mehr zu pupsen. Den Rest des Tages und auch den darauffolgenden verbrachte ich damit, mich zwischen Sofa und Toilette hin- und herzuschleppen.

Trotz dieser Rückfälle betrachte ich meine Krebserkrankung und ihre Folgen nicht als großes Unglück. Ich sehe sie eher als Bremse für meinen Tatendrang. Na gut, wenn mir alles aus dem Gesicht fällt, auch das was ich gar nicht im Magen habe, dann ist das schon arg. Aber sonst habe ich mir mein Leben in meiner Krankheit eingerichtet. Es geht in kleinen Schritten vorwärts. Meinen Haushalt kann ich inzwischen auch ohne das Tanteneinsatzkommando bewältigen. Was ich noch immer nicht kann, ist den Wäschekorb vom dritten Stock nach unten auf den Hof schleppen. Also lasse ich das und trockne meine Wäsche in der Wohnung. Die Bettwäsche wird mir nach wie vor schrankfertig ins Haus gebracht. Bei meinen Handtüchern kommt der Wäschetrockner zum Einsatz. Da verwandeln sie sich wenigstens nicht in Reibeisen.

Auch fürs Fensterputzen fühle ich mich immer noch nicht fit genug. Meine Freundin war letztens mit ihrer kleinen Tochter hier. Mäuschen presste begeistert ihr Gesicht an meiner Balkontür platt. Ihre kleinen Hände hinterließen mehrere Abdrücke. Ihre Mutter ermahnte sie, es zu unterlassen. Ich müsste sonst die Fenster putzen. Genau das würde ich nicht tun, beruhigte ich sie. Ich warte mit dem Fensterputzen immer noch auf meine Kusine. Sie wollte mich ja schon während meiner ersten Chemotherapie besuchen. Aber sie hatte sich im Urlaub stark erkältet. Mir ist der Umgang mit Bazillenträger ja zum Glück strengstens verboten. Mit meiner zweiten Chemo hat meine Kusine eine neue Chance bekommen. Sie hatte angekündigt, an einem Freitag anzureisen und mich dann ein Wochenende zu bekochen. Das ist eine Drohung, und die ist sehr ernst zu nehmen. Meinen Krebs werde ich sicher überstehen, aber die Kochkünste meiner Kusine? Da sind Zweifel angebracht. Besonders weil ihr Mann am Telefon meine schlimmsten Befürchtungen bestätigte. Es hätte sich in dieser Hinsicht nichts geändert. Aber wir haben jetzt ja schon Juli. Meine Chemotherapie geht noch bis Anfang September. Als unverbesserlicher Optimist hoffe ich, dass meine Kusine es auch diesmal nicht schafft, in meine Wohnung einzufallen. Vielleicht komme ich ja wieder ungeschoren davon.

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