Nordlichter
Kopf
Die erste Dosis
Unter der Schlagzeile Agentur für Arbeit hat 5,5 Milliarden Euro übrig, freute sich Alfred Boss vom Kieler Institut für Weltwirtschaft in der Welt am Sonntag über den Überschuss. Wie eine Bundesagentur Geld "erwirtschaften" kann, durfte ich im Frühjahr als Leistungsberechtigte am eigenen Leib erfahren. Halbtote werden dann kurzerhand von sogenannten Amtsärzten per Ferndiagnose als voll arbeitsfähig eingestuft. Mir wäre in meinem Fall das ALG I gestrichen worden, obwohl ich darauf nach Ablauf des Krankengeldes Anspruch gehabt hätte, bis mir die Erwerbsminderungsrente zugesprochen wurde. Der Agentur für Arbeit war auch bekannt, dass ich bereits einen Termin beim Arzt des Rentenversicherers hatte. Wenn dann trotzdem von dieser Agentur ein Gutachten nach Aktenlage erstellt wird, das mir konsequent die zustehende Leistung aberkennt, dann war das Absicht. Nur der gleichzeitig eingetroffene Rentenbescheid bewahrte mich vor einer Klage vorm Sozialgericht und vor dem Verlust der Krankenversicherung. Das Ergebnis des Bescheides ist bekannt. Ich kann täglich nur zwei Stunden arbeiten, weil ich voll erwerbsgemindert bin. Meine jetzt amtlich bestätigte Schwerbeschädigung beträgt 90%.

Für die Agentur für Arbeit bin ich nur eine Simulantin. Selbstverständlich war ich ein bedauerlicher Einzelfall, einer von vielen, wie die Mitarbeiter der Agentur bestätigten. Sie redeten sich übrigens damit heraus, dass sie keine Ärzte wären und nicht anders entscheiden könnten, als mir das ALG zu entziehen. Vom gesunden Menschenverstand war keine Rede. Na immerhin lässt sich so ein bisschen Geld sparen, und die Statistik sieht auch etwas netter aus, wenn man die Anspruchsberechtigten hinausdrängelt. Oder wenn man die Arbeitsuchenden erst gar nicht als solche zählt. Frisieren sollte besser den Haarkünstlern überlassen bleiben. Das Verkünden der Arbeitslosenzahlen und die Erfolgsmeldungen erinnern groteskerweise an die Jubelberichte der Aktuellen Kamera über die monatliche Planerfüllung.


In einem Kommentar hatte jemand entsetzt geäußert, so langsam beschleiche ihn der begründete Verdacht, nicht die BRD habe die DDR übernommen, sondern es sei eher genau umgekehrt. Zumindest das Aufhübschen der Statistik der Arbeitslosenzahlen ließe sich verhindern. Dem Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages liegt ein Antrag vor, der genau das erreichen soll, eine ungeschönte Statistik. Eingereicht hat die Petition "Bundesagentur für Arbeit: Zahl der Arbeitslosen" Naomi-Pia Witte von den Linken am 22. Mai 2007. Bis jetzt, wo ich dies schreibe, haben 6.876 Bundesbürger, einschließlich mir selbst unterzeichnet. Das reicht aber bei weitem nicht, notwendig sind 50.000 Unterschriften.

Ich bitte Euch, die Ihr mein Blog lest oder meinen Podcast hört, unterstützt diese Petition, folgt dem Link, und tragt Euch als Mitzeichner ein. Ob es gelingt bis zum 16. Juli die erforderlichen Stimmen zusammenzubekommen, ist fraglich. Aber lasst es uns wenigstens vesuchen! Es wäre hilfreich, wenn sich mindestens eines der Alphatiere der Blogosphäre dieser Sache vehement annehmen würde. Nur einen Link zu setzen, ist nicht genug. Ich bin immer noch der Meinung, richtige Macht hätten wir Blogger erst, wenn wir Gesetze durchsetzen oder verhindern können. Hier wäre die Gelegenheit, es zu beweisen. Ich kann diese Sache aus zwei Gründen nicht selbst in die Hand nehmen:

1. Mein Weblog Nordlichter hat nur 20 Besucher am Tag.
2. Ich bin seit Donnerstag mit der Strahlentherapie beschäftigt.

Wer solcher Art Therapie nach einer Krebsoperation hinter sich hatte, der weiß, man kommt in der Zeit kaum zu etwas anderem. Am Donnerstag wurde es nun ernst, ich fuhr mit dem Taxi nach Greifswald zur Strahlentherapie. Statt der Stühle wie vor zwei Jahren war der Warteraum jetzt mit hässlichen blauen Klubsesseln vollgestellt. Bequemer saß ich darin nicht, ich kam mir noch verlorener vor. Die Dame an der Annahme konnte sich an mich erinnern. Im Gegensatz zur ersten Bestrahlungstherapie musste ich mich nun oberhalb des Nabels entblößen, bevor ich auf die Pritsche kletterte. Diesmal lag ich auf dem Rücken die Arme über dem Kopf verschränkt. Die Assistentin zerrte das bunte Badetuch mit mir darauf in die richtige Position und verschwand dann hinter der Tür.

Da lag ich nun allein auf meinem Badetuch die Strahlenkanone im Blick. Ich hätte gut jemand gebrauchen können, der meine Hand hielt. Aber es war niemand da. Das Gerät schwebte drohend über mir. Plötzlich rannen Tränen über mein Gesicht, ohne dass ich schluchzen musste, und ohne dass ich es verhindern konnte. Weil ich auf dem Rücken lag und mich nicht bewegen durfte, lief mir das Wasser rechts und links in die Ohren. Johnny Logan sang passenderweise "hold me now, don't cry". Ich konnte trotzdem nicht aufhören meine Ohren zu wässern, obwohl es doch erst die Simulation war und noch nicht die richtige Bestrahlung. Ich musste mir die Seen aus den Horchlöffeln wischen.

Anschließend konnte ich mich wieder anziehen und im Wartesaal platzieren. Ich wurde in die Kabine eins gebeten. Dort diente ein Klappbrett neben der Tür gleichzeitig als Sperre und Sitz. Vor zwei Jahren, als mein Bauch behandelt wurde, brauchte ich in keine Kabine zu gehen. Ich durfte mich direkt am Bestrahlungsgerät entblättern. Weil ich jetzt über ein kleines Stück Flur gehen musste, drapierte ich mein Badetuch wie eine Toga über die Schultern. Die Assistentin erkannte mich wieder. "Frau T., ich hatte Ihnen doch gesagt, ich will sie hier nicht mehr sehen." Ich war ja nicht freiwillig gekommen. Vor zwei Jahren hatte ich auf dem Bauch liegend das Geschütz kam gesehen sondern mehr gehört. Jetzt hatte ich es voll im Blick. Bei der Bestrahlung lag mein Kopf nach links geneigt. So flutete ich mein linkes Ohr.

Die körperliche Verwundung ist die eine Seite die seelische die andere. Auch wenn ich nicht rumjammerte, sah die Assistentin natürlich, was mit mir los war. Ob ich reden wolle? Bei der Strahlentherapie werden täglich dutzende von Patienten durchgeschleust, trotzdem ist man hier keine Nummer. Es ist kein Behandeln nur nach Dienstvorschrift. Während der langen Zeit meiner Erkrankung habe ich mich hier immer gut aufgehoben gefühlt, genauso wie bei den Schwestern in der Intensivstation und der Onkologie im Demminer Kreiskrankenhaus. Was man als Patient sucht, ist genau dies, Hilfe und Verständnis. Aber reden wollte ich dennoch nicht. Ich wäre dann in Tränen zerflossen.

Heute nach der vierten Bestrahlung fragte mich die Assistentin nochmals, wie ich mich fühle. Besser, die ersten beiden Tage waren besonders schlimm. Da kam alles wieder hoch. Dass ich das Gerät sehe, ist für mich eine zusätzliche Pein. Die Assistentin zeigte mir ihr Einfühlungsvermögen. Wann immer ich reden oder zum Wasserfall mutieren wolle, bräuchte ich es nur zu sagen. Ich weiß das, alleine dass es diese Möglichkeit gibt, hilft mir. Ansonsten fangen meine beiden Freundinnen hier, die mich anrufen und besuchen, das meiste ab. Ich bin froh, dass sie mir immer noch beistehen.

In einem Monat habe ich Geburtstag. Das wird dann die dritte bescheidene Feier in steter Folge werden. Bei der ersten wurde ich nach der Darmoperation aus dem Krankenhaus entlassen, bei der zweiten lag ich mit der Chemopumpe um den Hals in der Onkologie, und jetzt erhalte ich meine Strahlendosis als Geschenk. Vielen Dank, Herr Krebs! Ich habe die Nase voll.