Nordlichter
Kopf
Mein Freund der Baum
Er fiel nicht im frühen Morgenrot sondern Dienstag am späten Mittag. Aber tot ist er nun auch.

Ich wohne seit einigen Jahren in dieser Wohnung. Jeden Morgen blickte ich aus dem Wohnzimmerfenster auf die beiden Pappeln vorm Haus. In der schöneren Jahreszeit, wenn die Pappeln und die kleinen Ahornbäume, die den Parkplatz verstecken, belaubt waren, hatte ich immer den Eindruck mitten in einem Park zu sitzen. Ich hatte mich schon gefreut, mit dem im letzten Herbst neugebauten Balkon an meiner Wohnung dem Baum ein Stückchen näher gerückt zu sein. Wenn ich die Fenster am Vorbau beiseite schob, konnte ich die Blätter der Pappel rauschen hören. Mein Blick aus dem Wohnzimmer wurde an einer grünen Blätterwand gebremst. Im Sommer lugte die Sonne nur kurz am Block hervor, um gleich darauf hinter dem dicken Dach aus Pappelblättern zu verschwinden. Wenn sie ihren Weg an den Bäumen vorbei geschafft hatte, stand sie schon zu hoch am Himmel, um mein Wohnzimmer noch wesentlich aufheizen zu können.

Diesen Sommer wird das anders sein, wenn die Sonne dann hinter dem Block hervorscheint, erhalte ich hier die volle Breitseite. Mein Glaskasten von Balkonzimmer wird sich aufheizen wie eine finnische Sauna. Gewiss, da die beiden Bäume jetzt verschwunden sind, ist es heller im Zimmer. Es werden sicher auch einige Leute hocherfreut sein, denen die Bäume zuviel Dreck machten. Nun müssen im Herbst keine Blätter von der Straße und den Gehwegen gefegt werden. Im Mai werden die Anwohner von den weißen Kätzchen, die wie dicke Schneeflocken von den Bäumen trieben, verschont bleiben. Nun wird alles schön sauber sein. Genauso hübsch ordentlich und steril, wie die Grundstücke ehemaliger Städter in den Dörfern Vorpommerns.

Das letzte Foto von beiden Pappeln knipste ich gegen zehn, bevor ich zur Lymphdrainage ging. Ja, die letzte Woche konnte ich wieder zur Physiotherapie. Mein Hintern erlaubte es mir. Zwar musste ich, nachdem ich die Wohnung abgeschlossen und die halbe Treppe schon hinunter war, wieder zurück und mich aus den Sachen pellen. Kaum in der Physiotherapie angelangt, konnte ich auch gleich hinter der gewissen Tür verschwinden. Aber ich habe die Behandlung durchgehalten. Eine Lymphdrainage für die Beine dauert eine Stunde.

Mir fehlen die Lymphknoten, die mir mein Arzt aus dem Bauch räumen musste, um mein Leben zu bewahren. Wenn ich mich recht entsinne, waren nur zwei Lymphknoten nicht befallen. Mein Mastdarmkrebs hatte schon fröhlich begonnen an meinem Fettgewebe herumzuknabbern, wie mir die Stationsärztin damals berichtete. Sie sagte mir, das Ergebnis der Gewebeuntersuchung war für die Ärzte ein Schock und für mich? Ich musste mit meiner Angst fertig werden. Die Kompressionsstrümpfe und die wöchentliche Lympfdrainage sind dagegen nur ein geringer Preis um nicht Wurzeln begucken zu müssen. Auf der Erde ist es doch erheblich interessanter als darunter.

Die Beinkleidung kombiniert mit der Massage hat die Lymphödeme abschwellen lassen. Der Spannungsschmerz in den Füßen ist dagegen geblieben. Es ist ein Gefühl, als steckten meine Hufe in einem Schraubstock, und jemand zöge die Backen fest an. Die Therapeutin hat mir versichert im Laufe der Zeit würden die Schmerzen verschwinden. Die Behandlung selber, ist recht angenehm. Es ist kein Kneten sondern mehr ein Streichen, beginnt am Hals und endet an den Füßen. Ich liege nur mit BH und Slip bekleidet auf der Pritsche. Weil an mir ja nicht viel dran ist, und ich wie ein Schneider friere, wenn ich da so ausharre, deckt die Therapeutin mich teilweise mit einem Laken zu. Die Dame bringt einiges mehr als ich auf die Waage, und falls ich mich mit ihr auf einen Ringkampf einlassen würde, hätte ich die denkbar schlechtesten Karten. Also bin ich ein braves Mädchen und rekel die Glieder entsprechend ihren Anweisungen.

Dem Masseur in der Plauener Kurklinik bin ich regelmäßig auf dem Behandlungstisch eingeschlafen. Hier nun kann ich nicht schlafen, weil wir beide pausenlos sabbeln. Unser Themenbereich ist weitgefächert und umfasst neben der Therapie, Psyche, Mode, Kochtips, und Haustieren den Mann im allgemeinen. Als besonderen Problemfall haben wir den erkrankten Mann ausgemacht, für Frauen natürlich eine schlichte Katastrophe. Ich bin nicht gerade ein Ausbund an Beredsamkeit. Nur, durch meine Krankheit bedingt, leide ich oft unter unfreiwilligem Hausarrest. Das Schwätzchen mit der Nachbarin oder der Blumenfrau, das Gespräch mit meiner Freundin am Freitagnachmittag bleiben oft die einzigen vis-à-vis geführten. Seit meiner Erkrankung ist meine Telefonrechnung dramatisch gestiegen. Ein Plausch mit der Therapeutin kommt da gerade recht.

An diesem Wochenende hatte ich noch jemand zum Erzählen, mein Bruder war aus Berlin gekommen. Nebenbei hat er den Vorhang an der Balkontür angebracht, ein wenig gemalert, den Abenteuerspielplatz für die Sittiche zusammengebaut und mir eine neue Arecapalme angeschleppt. Am Wochenende ging es mir richtig gut.

Heute morgen nun war wieder alles anders. Ich bin halb acht aufgestanden, um neun hatte ich immer noch nicht gefrühstückt. Das konnte ich erst, als es mir gelang, einige Pillen gegen Durchfall in meinen Rachen zu werfen. An den Tagen, an denen ich mindestens fünfunzwanzig mal auf die Toilette und viel wischen muss, bin ich echt genervt. Niemand erwarte von mir eine gerechte Beurteilung, wenn ich nicht sitzen kann, und hinten der Flammenwerfer arbeitet. Ich bin nicht erst seit drei Tagen, sondern ich bin nun schon unfassbare zwanzig Monate krank. Ein Ende ist immer noch nicht abzusehen.

Am liebsten würde ich meiner Krankheit davonlaufen, nicht einmal das gelingt mir im Augenblick. Ich komme gerade mal bis zur nächsten großen Ampelkreuzung.