Nordlichter
Kopf
Montag, 3. Juli 2006
Rückschläge
Ich weiß, meine Lieben, ich bin spät dran. Aber es hat mich gestern einfach aus der Bahn geworfen. Deshalb erfolgt das übliche sonntägliche Statement aus der Krankengruft erst heute.

Nachdem ich meinen Magen gestern morgen um das Nichts, das er enthielt, noch weiter erleichtert hatte, konnte ich Frühstücken abschreiben. Mir war einfach zu übel. Ich kroch also wieder ins Bett und döste dort bis um 15.00 Uhr still vor mich hin. Dann versuchte ich es mit einer großen Tasse schwarzen Tee. Die Verweildauer des Tees war recht kurz bemessen. Anschließend durfte ich mein Bad putzen. Das erste Mal feste Nahrung und wieder Tee konnte ich am frühen Abend zu mir nehmen. Wie ich unter diesen Umständen an Gewicht zulegen soll, ist mir schleierhaft.

Dabei ging es mir während der ersten beiden Tage meiner Chemotherapie ganz gut. Der kleine Mann lauerte in der Onkologie schon ungeduldig auf mich. Ich wäre die einzige Frau, die ihn hätte wartenlassen, behauptete er. Meine Frisur gefiel ihm. Er erzählte mir von den Problemen, die er in seiner Partnerschaft hätte. Seine Freundin würde sich nicht so richtig zu ihm bekennen. Er hatte den Eindruck, sie würde sich von allen möglichen Leuten beeinflussen lassen, von ihrer Mutter, ihren Kindern und sogar von ihrem Vermieter. Außerdem würden sie beide sich meist nur einmal die Woche sehen. Das sei ihm zu wenig. Das kann ich verstehen. Der kleine Mann bedeutete mir, er hätte seiner Freundin erklärt, er würde sich anderweitig umsehen, falls sich in ihrer Beziehung nichts ändern würde. Zu mir gewandt meinte er, ich sollte mir auch wieder jemand suchen. Ich sagte ihm, das würde ich auch tun, wenn ich dies alles hier glücklich durchgestanden hätte. Neugierig wollte er von mir wissen, auf welchen Typ Mann ich stehe. Ich sah keine Veranlassung, ihm das zu verraten. Also forschte er weiter, ob unter meinen Exfreunden jemand mit seiner Statur gewesen wäre. Meine Antwort fiel eindeutig aus, nein, kein einziger. Als ich am Mittwoch das Zimmer in der Onkologie betrat und erzählte, dass mein Tag mit Brechen begonnen hatte, wollte der kleine Mann mich am liebsten zu sich nach Hause mitnehmen, um mich zu bemuttern. Die Schwester erinnerte ihn daran, dass er in diesem Fall wohl Ärger bekäme. Seine Freundin würde das kaum tolerieren.

Das Brechen sollte nicht das einzige Übel für mich an diesem Tag gewesen sein. Nachmittags gönne ich mir immer ein Mittagsschläfchen. Das ist der große Unterschied zu meinem gesunden Leben. Da habe ich das so gut wie nie getan. Wenn ich jetzt nach dem Mittag immer auch einnicke, dann brauche ich das wohl. Am Mittwoch bin ich aber nicht zum Schlafen gekommen. Es rumorte heftig in meinem Bauch. Ich sprang mit einem Satz aus dem Bett und war trotzdem zu langsam. Auch ein Sprintweltmeister hätte es nicht rechtzeitig geschafft. Für den Ernstfall habe ich immer eine Packung Einwegwaschlappen und meine Waschmaschine. Ich traute mich danach nicht einmal mehr zu pupsen. Den Rest des Tages und auch den darauffolgenden verbrachte ich damit, mich zwischen Sofa und Toilette hin- und herzuschleppen.

Trotz dieser Rückfälle betrachte ich meine Krebserkrankung und ihre Folgen nicht als großes Unglück. Ich sehe sie eher als Bremse für meinen Tatendrang. Na gut, wenn mir alles aus dem Gesicht fällt, auch das was ich gar nicht im Magen habe, dann ist das schon arg. Aber sonst habe ich mir mein Leben in meiner Krankheit eingerichtet. Es geht in kleinen Schritten vorwärts. Meinen Haushalt kann ich inzwischen auch ohne das Tanteneinsatzkommando bewältigen. Was ich noch immer nicht kann, ist den Wäschekorb vom dritten Stock nach unten auf den Hof schleppen. Also lasse ich das und trockne meine Wäsche in der Wohnung. Die Bettwäsche wird mir nach wie vor schrankfertig ins Haus gebracht. Bei meinen Handtüchern kommt der Wäschetrockner zum Einsatz. Da verwandeln sie sich wenigstens nicht in Reibeisen.

Auch fürs Fensterputzen fühle ich mich immer noch nicht fit genug. Meine Freundin war letztens mit ihrer kleinen Tochter hier. Mäuschen presste begeistert ihr Gesicht an meiner Balkontür platt. Ihre kleinen Hände hinterließen mehrere Abdrücke. Ihre Mutter ermahnte sie, es zu unterlassen. Ich müsste sonst die Fenster putzen. Genau das würde ich nicht tun, beruhigte ich sie. Ich warte mit dem Fensterputzen immer noch auf meine Kusine. Sie wollte mich ja schon während meiner ersten Chemotherapie besuchen. Aber sie hatte sich im Urlaub stark erkältet. Mir ist der Umgang mit Bazillenträger ja zum Glück strengstens verboten. Mit meiner zweiten Chemo hat meine Kusine eine neue Chance bekommen. Sie hatte angekündigt, an einem Freitag anzureisen und mich dann ein Wochenende zu bekochen. Das ist eine Drohung, und die ist sehr ernst zu nehmen. Meinen Krebs werde ich sicher überstehen, aber die Kochkünste meiner Kusine? Da sind Zweifel angebracht. Besonders weil ihr Mann am Telefon meine schlimmsten Befürchtungen bestätigte. Es hätte sich in dieser Hinsicht nichts geändert. Aber wir haben jetzt ja schon Juli. Meine Chemotherapie geht noch bis Anfang September. Als unverbesserlicher Optimist hoffe ich, dass meine Kusine es auch diesmal nicht schafft, in meine Wohnung einzufallen. Vielleicht komme ich ja wieder ungeschoren davon.

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