Nordlichter
Kopf
Sonntag, 18. Juni 2006
Alte Freunde
Mitte September habe ich in Dresden Seminargruppentreffen. Wir sehen uns so alle drei Jahre. Natürlich freue ich mich schon sehr darauf. Ich werde den halben Abend damit beschäftigt sein, wie versprochen, diejenigen zu umärmeln und zu drücken, die mir während meiner Erkrankung zur Seite standen, vor allen andern selbstverständlich meine Freundin zuerst.

Ich habe drei Freundinnen. Eine wohnt in Berlin, und sie werde ich in Dresden sehen. Die anderen beiden leben in Dörfern hier in der Umgebung. Ich bemerkte, dass sich eine von ihnen seltsamerweise zurückzog. Das war so gar nicht ihre Art. Ich kenne sie nur als sehr engagierte Person. Meine Freundinnen sind mir zu wichtig, dass ich die Sache auf sich beruhen lassen konnte. Ich wollte nicht mutmaßen oder den Grund durch Hörensagen erfahren und schon gar nicht durch Dritte. Also griff ich ganz einfach zum Telefon, rief sie an und fragte, wie es ihr geht. Sie ist auch krank, nicht so schwer wie ich aber immerhin. Ihr Befinden ist dadurch stark beeinträchtigt. Sie sagte mir, sie würde viel an mich denken, nur ihre Kraft reiche gerade für sich selbst und ihre Familie. Wer sollte das besser verstehen als ich?

Im Moment habe ich ja auch mehr den nehmenden Part inne und bin auf die Hilfe angewiesen, die ich von anderen erhalte. Ob ich sie je zurückgeben kann? Vermutlich nicht, ich habe trotzdem kein schlechtes Gewissen die Unterstützung anzunehmen. Meine Tante hatte meine andere Freundin gefragt, warum sie sich so vehement um mich kümmern würde. Sie antwortete, im umgekehrten Fall wüsste sie genau, dass ich ihr auch beistünde. Die Schwester in der Onkologie hatte erzählt, dass sich manche abwenden, weil sie nicht wissen, wie sie mit einer Krebserkrankung umgehen sollen. Das Problem sehe ich nicht. Meine Leute haben wohl mehr Schwierigkeiten herauszufinden, wann ich lieber für mich sein will, und wann ich wieder etwas am normalen Leben teilhaben will. Das muss ich dann schon sagen.

Am Dienstag werde ich wieder mal meine Arbeitskollegen besuchen, zusammen mit ihnen frühstücken und sehen, was es denn inzwischen so Neues gibt. Ich werde abgeholt und auch wieder nach Hause gefahren. Es ist mir wichtig den Kontakt nicht zu verlieren. Ich stehe so schon genug draußen. Meine Kollegen helfen mir wie gewohnt beim Einkaufen und Tragen schwerer Dinge. Wenn ich mit meiner Chefin telefoniere, versucht sie mich immer auszuhorchen, ob ich mich inzwischen verbotenerweise als Gewichtheber betätigt hätte. Das gäbe natürlich Mecker. Aber in dieser Hinsicht bin ich ganz brav. Meinen Eingeweidebruch hatte ich mir zwar durch ausgeprägtes Husten eingehandelt, aber ich bin nicht scharf auf eine neue Beule am Bauch.

Diese Woche hatte ich wenige Probleme mit mir und meinem Körper. Durch die Wärme habe ich seltsamerweise dicke Füße bekommen. Komisch, letztes Jahr war es doch auch heiß, und ich hatte so was nicht. Meine Beine sind dagegen dürre wie eh und je. Das sieht natürlich besonders bizarr aus meine mageren Storchenstelzen und dazu diese massigen Büffelhufe. Abhilfe schafft nur verschärftes Sofahocken mit hochgelegten Haxen. Rechts im Bauch muckert es jetzt immer etwas. Ich bin mir nicht im klaren, sind das Blähungen, Muskelkater oder kneifen die Narben. Von Übelkeit bin ich diese Chemowoche weitgehend verschont geblieben. Natürlich ging es mir dadurch gleich besser.

So konnte mein Mitpatient verkünden, als ich das Zimmer in der Onkologie betrat, "Da ist sie, kommt herein und strahlt." Er hatte einer Frau, die dort auf ihre Mutter wartete, von mir berichtet, wie sie sagte. Ich erzählte den beiden, dass mir diesmal nicht übel gewesen wäre, und ich auch nicht brechen musste. Der kleine Mann hielt das für seinen Verdienst und gab sich Mühe mich weiterhin gut zu unterhalten. Er erwähnte, dass er nicht nur als Kraftfahrer und Fleischer gearbeitet hätte, sondern von Beruf auch Koch wäre. Wir diskutierten dann über die beste Art einen Rinderbraten zu füllen. Der kleine Mann erzählte mir wieder von seiner zweiten Frau. Sie hätte vor ihren beiden Kinder gesagt, dass sie mit ihm, deren Stiefvater, die schönsten Jahre ihres Lebens verbracht hätte. Dann musste er seine Schilderung unterbrechen, um sich mit dem Taschentuch über die Augen zu reiben. In seinem Auto hätte er Fotos von seiner Frau und der kleinen Enkelin. Seine Freundin wäre nicht eifersüchtig. Was würde das auch nützen? Seine Stiefkinder kümmerten sich nicht so um ihn, wie er es gerne hätte. Inwieweit das stimmt, kann ich nicht beurteilen. Ich erfahre nur seine Sicht der Dinge.

Mit seiner Freundin scheint sich alles wieder einzurenken. Sie hätte für ihn Fenster geputzt. Dem kleine Mann hätte der Rücken geschmerzt, dass er sich kaum bewegen konnte. Auch hätte er sich stark erkältet, wie ein eindrucksvoller Hustenanfall bewies. Seine Freundin hätte daraufhin einen Arzt gerufen. Dabei hat sich nach seiner Darstellung folgendes abgespielt: Er hätte dem Arzt die Tür geöffnet und sich dann abgewendet. Das hätte dieser hinterhältig ausgenutzt. Der Doktor hätte heimlich eine Spritze gezückt und die dann dem kleinen Mann heimtückisch und ohne Vorwarnung in die Rückseite gerammt. Nach diesem Anschlag hätte der Arzt die Injektionsstelle desinfiziert und sei dann geflüchtet. Nicht einmal abgehört hätte er ihn, empörte sich mein Mitpatient. Der Arzt als Attentäter, ich fand diese Vorstellung lustig, der kleine Mann jedoch nicht.

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