Nordlichter
Kopf
Montag, 5. Juni 2006
Balkonien
Nun kann ich mich demnächst doch vom Balkon stürzen, theoretisch jedenfalls. Praktisch scheitert dieses Vorhaben an meinem Höhenkoller. Am Block werden bei den Zweiraumwohnungen Balkons vorgesetzt. Als Mieter muss ich Baufreiheit schaffen. Auch aus diesem Grund war mein Bruder gekommen. Ich hatte mir dort, wo die Balkontür hinkommt, einen kleinen Arbeitsplatz eingerichtet. Das Bücherregal fungierte als Raumteiler zum übrigen Wohnzimmer. Ganz unten im Regal stand mein PC, den ich vor über drei Jahren selbst zusammengebaut hatte, gleich neben dem Arbeitstisch. Falls ich irgendwas zu basteln hatte, musste ich alle Bücher rausräumen und das Regal samt PC vorziehen. Nicht gerade ideal, aber in einer so kleinen Wohnung wie der meinen nicht anders möglich. Den Vorschlag meines Vaters den PC-Arbeitsplatz im Schlafzimmer einzurichten, hatte ich rigoros abgelehnt. Ich muss mit den Dingern arbeiten, ich will nicht noch mit ihnen schlafen. In mein Schlafzimmer kommt mir kein PC!

Trotz der neuen Verordnung für Elektroschrott habe ich meinen eigenen Entsorgungsweg gefunden. Ich reiche meinen abgelegten PC einfach an meine Verwandtschaft weiter. Dankbarer Abnehmer des letzten war mein Neffe, dieser jetzt war für meinen Bruder gedacht. Ich hatte einige Monate vor meiner Erkrankung bei Aldi ein Notebook erstanden, mit 80-GB-Festplatte und dem üblichen reichlichen Zubehör an Programmen und drumherum. Es hält auch im Batteriemodus lange genug durch und ist erfreulich leise. Nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus habe ich nur noch vor dem Notebook gehockt. Am gewohnten PC-Arbeitsplatz fiel es mir schwer zu sitzen. Also schob ich den Drehsessel vor den Esstisch, der sich hervorragend als Arbeitstisch eignet. Mein PC staubte seitdem vor sich hin. Der platte Winzling ist als Arbeitspferd für alles, was ich am Computer tue, ausreichend. Die Festplatte ist groß genug. So bin ich wenigstens gezwungen das, was ich nicht mehr benötige, auch wieder zu löschen. Wenn man genug Platz hat, müllt man sich doch nur voll. Ob im Computer oder in der Wohnung ich bin genötigt Ballast abzuwerfen.

Mein Bruder hat das Regal an die Wand geschoben. Es nimmt alles auf, was ich rund um den Computer so brauche, die Bücher, DVD, CD, das Notebook mit USB-Headset und grafischem Tablett, die externe Festplatte für Sicherungen und den Scanner. Meinen alten PC-Arbeitstisch werde ich dann als Gärtnerarbeitsplatz auf den Balkon schieben.

Aber soweit ist es ja noch nicht. Am Freitag haben die Bauarbeiter den Beton an der Stelle durchgesägt, wo die Tür hinkommt. Ich bin mit den Sittichen, den Pflanzen und dem Notebook ins Schlafzimmer gezogen. Am Abend habe ich dann alles wieder zurückgestellt, die Kakteen aufs Fensterbrett die Orchideen auf den Nachtspeicherofen. Ich habe die Jalousien wieder angebracht und die beiden Ampeln aufgehängt. Dann blieb mir nur noch die Plane vom Sofa zu rollen und mich draufzulegen. Ich war geschafft. Fensterputzen habe ich mir erspart. Erstens bin ich dazu nicht in der Lage, zweitens stehen die neuen Fenster schon im Hausflur. Die Hauptarbeiten passieren morgen. Dann wird das Betonteil herausgebrochen und die neuen Fenstern eingesetzt. Heute abend geht alles wieder retour. Wer seine Zimmerpflanzen liebt, räumt sie hin und her.

Zum Glück passen sich die Bauarbeiten nahtlos in meinen Therapieplan ein. Dies ist ja wieder meine Erholungswoche. Diese Chemo fiel mir etwas leichter als die letzte. Das heißt, ich konnte besser essen, für mich ja überaus wichtig. Übel war mir, wie schon bei der vorhergehenden Chemo, noch während der ersten Sitzung. Die Nebenwirkungen waren die gleichen. Ich habe in der Onkologie einen neuen Mitpatienten im blauen Sessel mir schräg gegenüber. Während ich gegen das Würgen ankämpfte und die Schwester mir helfen musste, spürte er keine negativen Wirkungen. Der neue Patient ist ein kleiner älterer Herr von rundlicher Gestalt. Wenn er nicht schlief, unterhielt er mich mit zum Teil lustigen Geschichten aus seinem Leben und lenkte mich damit von meiner Übelkeit ab.

Während seiner Reha hatte irgendjemand den Diätplan vertauscht und dann noch vergessen, dass der Patient Stomaträger ist. Er schilderte mir, dass er im guten Glauben gegessen hätte, was ihm zugeteilt wurde. Er habe sich zum Schlafen niedergelegt. Die Winde hätten den Beutel aufgeblasen, und dann sei er geplatzt. Wie seine Sachen danach ausgesehen haben, kann ich mir gut vorstellen. Hübsch braun. Als ich noch ein Känguruh war, da war mein Beutel auch manchmal aufgepumpt wie ein Luftballon. Explodiert ist er mir zum Glück aber nie.

Gefallen hat mir, wie der kleine Mann über seine zweite Frau sprach. Er würde keinen Moment mit ihr bereuen, erzählte er mir. Er hat sie durch Krebs verloren, und nun hat er selbst Krebs. Vor der Operation, berichtete er, war er wegen seiner extremen Körperbehaarung am Bauch rasiert worden. Dann entzündete sich sein Hintern, und er erhielt dort ein Pflaster, das jeden zweiten Tag erneuert wurde. Wenn die Schwester in der Tür stand, dann tränten ihm schon die Augen, bekannte er. Ich bemerkte, es wäre besser gewesen, er hätte sich auch den Hintern rasieren lassen. Der kleine Mann strich sich übers lange Brusthaar. "Manche Frauen mögen das." verriet er mir mit Kennermiene. Wenn die Schwester kam, um die Infusion zu wechseln, zuckte er zusammen. Er behauptete, sie würde ihn ziepen. Ich empfahl, runter mit dem Brusttoupet. Die Schwester stimmte mir zu.

Der neue Patient sagte mir, trotz endständigem Stoma und Therapie würde er am normalen Leben teilnehmen. Für mich hat sich das ja wegen Übelkeit und Schwäche vorerst erledigt. So unterschiedlich ist das mit dem Krebs und der Therapie. Seine Freundin hätte ihn zum Essen eingeladen, plauderte der kleine Mann. Sie hätten sich gestritten, und er hätte etwas Böses gesagt. Danach war der Ofen erst einmal aus. Inzwischen redeten sie aber wieder miteinander. Auch wenn die Beziehung im Augenblick nicht so laufen würde, wie er sich das vorstelle, hätte er niemanden nebenbei. Er wäre ein One-Woman-Man. Das habe ich von Männern noch nicht oft vernommen. Gewöhnlich brüsten sich die Herren doch eher, was für ein toller Hirsch sie wären. Bekennende Monogame sind seltene Exemplare der Gattung Mann, und was sonst noch unter diesem Etikett firmiert.

Als der kleine Mann ging, verabschiedete er sich von mir mit Handschlag. Er sagte, Demmin wäre ein Dorf, und wenn er mich sähe, würde er rechts ranfahren, aus seinem Auto hüpfen und mich begrüßen. Das ist auch nötig. Gewöhnlich sehe ich niemand im Auto, wenn ich mit Tunnelblick durch die Stadt hirsche. Meine Arbeitskollegen haben sich schon bitter beklagt, dass sie mich fast über den Haufen fahren würden, und ich nähme sie trotzdem nicht wahr. Am Sonntag habe ich den üblichen Spaziergang im Viertel unternommen. Zielprämie war ein Eis im Tante-Emma-Laden, der auch sonntags geöffnet hat. Eisessen ist im Moment etwas schwierig für mich. Die Lippen werden sofort taub, im Mund und an der Zunge kribbelt es. Die Kieferkrämpfe habe ich auch immer noch. Ich muss auf so vieles verzichten, wenigstens das Eis will ich mir ab und zu gönnen. Heute habe ich den Rundgang gelassen. Mir wächst an der rechten Schläfe ein Horn, und ich bin etwas geruchsempfindlich.

Legen sich die Zytostatika eigentlich auf den Brägen? Ich glaube mein Hirn arbeitet momentan mit Zeitverzögerung. Gibt es dafür einen Schalter? Kann ich das wieder abstellen?

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