Nordlichter
Kopf
Alter ego
Meinen Pinguin aus der Kunsttherapie in Plau hatte ich nicht heil nach Hause geschafft. Ich habe ihm den linken Flügel abgebrochen. Da der Ton aber noch feucht war, konnte ich es reparieren. Ich hatte mir beim Modellieren keinen Plan gemacht und einfach mit meinen gefühllosen Fingern munter am Tonklumpen herumgeknetet. Heraus kam dieser merkwürdige Vogel. Die Therapeutin deutete ihn betrachtend, gut vorankommen würde er nicht. Aber trotzdem würde das Tier schon mal schwankend lostapsen. Die Ähnlichkeit mit mir und meiner jetzigen Situation ist unverkennbar. Richtig laufen kann auch ich nicht. Ich mag Pinguine. Meine liebsten Filmhelden gehören zur frechen Pinguingang aus dem Trickfilm "Madagaskar". Da stehe ich nun, schlage wie wild mit den Flügeln und hebe keinen Zentimeter vom Boden ab. Pinguine können gar nicht fliegen! Warum hat mir das keiner gesagt?

Tonpinguin als alter ego

Also muss ich mich weiter mit meinen dicken Füßen durch die Gegend quälen. Mit geschwollenen bandagierten Beinen zu laufen fällt mir sehr schwer. Dabei habe ich neben den üblichen Gängen zu Arzt und Physiotherapie auch solche zu verschiedenen Ämtern zu absolvieren. Mein Krankengeld läuft Ende Dezember aus. Dann sind die 78 Wochen um. Die nette Mitarbeiterin meiner Krankenkasse erklärte mir am Telefon, dass ich Anspruch auf Arbeitslosengeld I hätte, obwohl ich dann beschäftigungs- und nicht arbeitslos bin. Ich erhalte das Arbeitslosengeld auch nur, wenn ich einen Antrag auf Erwerbsminderungsrente stelle. Genauso habe ich es im Stoma-Forum gelesen. Konkret steht das im SGB III im § 142, falls Ihr es nachlesen müsst.

Beim Rentenversicherer hatte ich letzte Woche einen Termin. BfA und LVA firmieren seit diesem Jahr unter dem Namen "Deutsche Rentenversicherung". Im Amt selbst ist man aber nach wie vor hübsch getrennt. Die Kollegin der LVA darf die Kunden der BfA nicht bedienen und umgekehrt. Mit seinen Formularen geht man immer noch zur entsprechenden Rentenanstalt. Beim Ausfüllen derselben hatte ich so meine Plage. Die Folgen der Chemotherapie bewirken, dass ich mehr schlecht als recht schreiben kann. Auf der Tastatur meines Notebooks rumzuhacken, fällt mir bedeutend leichter. Dessen ungeachtet, kam ich gut vorbereitet mit meinen Unterlagen dort an. Dennoch hat es eine Stunde gedauert, ehe die hilfsbereite und freundliche Mitarbeiterin mich entlassen konnte.

Den Termin bei der Bundesanstalt für Arbeit habe ich am Donnerstag. Die Formulare sind ausgefüllt. Ich habe deswegen meine Krankenkasse und meinen Arbeitgeber besucht. Solange ich keine Erwerbsminderungsrente beziehe, erhalte ich Arbeitslosengeld. Sie verrechnen es dann untereinander. Ich habe noch keine Ahnung, wie sich meine finanzielle Lage dann darstellt. Ein Absturz vom Gehalt über Kranken- und Arbeitslosengeld bis hin zur Erwerbsminderungsrente ist es allemal.

Hinzukommt, dass einer durchgestandenen Krebserkrankung nicht nur körperliche Einschränkungen folgen und sich Mehltau auf die Seele legt. Nein, eine chronische Krankheit ist auch dem Ausmaß des Portemonnaies sehr abträglich. Die Krankenkasse sponsert nur Fahrten zur Strahlen- und Chemotherapie. Wenn ich wegen meiner Lymphödeme zu einem Arzt am anderen Ende der Stadt muss oder zur Nachsorge nach Greifswald, dann ist das allein mein Problem. Diese Fahrten zahle ich selbst, genauso wie Unmengen von Vorlagen oder Einmalwaschlappen, den erhöhten Verbrauch an zartem Klopapier, das vielfache Betätigen der Spültaste, und was das Leben nach überstandenem Darmkrebs noch so Aufregendes für mich bereithält. Die Krankenkasse versteht sich aber immerhin als Mäzen für meine Windelhosen. Aber die trage ich nur auf großer Fahrt. Es ist so umständlich sich da wieder rauszuschälen. Außerdem sehen meine Jeans über den Dingern aus, als trüge ich Ballonhosen. In der Wohnung tun es auch Vorlagen. Die gibt es im Sanitätshaus für 2 Euronen die Packung mit 15 Stück.

Außerhalb meiner Wohnung brauche ich etwas mehr Schutz für meine Wäsche. Ich verwende ganz normale Windeln für 11-25 kg schwere Kleinkinder. Bei mir sind das natürlich keine Windel sondern Vorlagen. Den Tip habe ich vom Psychologen der Plauer Rehaklinik, und der hat ihn von einem seiner Patienten. Im Billigmarkt gibt es 54 Windeln für etwa 10 Euronen. Diese Packung hat meine Freundin gekauft, weil der Weg zum Supermarkt für mich einfach zu weit ist. Ich hätte aber auch keine Probleme sie selbst zu kaufen. Wenn mich jemand fragen sollte, ob ich die Windeln für ein Kind kaufe, würde ich antworten, nein, für mich selbst. Sie würden das für einen Witz halten. Mit diesen Windelvorlagen fühle ich mich bei meinen Unternehmungen sicher.

An meinen vielen Toilettengängen das, was man in Plau als Stuhlinkontinenz feststellte, hat sich immer noch nichts geändert. Am Vormittag geht es, und so sehe ich zu, dass ich meine Termine außer Haus in diese Zeit lege. Nach dem Mittag geht der Spaß erst so richtig los. Ich muss bis in den Abend hinein rennen. Nachts habe ich zum Glück meine Ruhe. Wenn ich schlafe, schläft auch mein Darm. Die Nacht kann ich sogar ohne Vorlagen überstehen. Ich habe genau drei Möglichkeiten den Toilettengängen und einem blutigen Hintern zu entgehen: 1. Ich esse nichts. 2. Ich schlafe. 3. Ich stopfe mich mit Lopedium voll. Eine Lösung stellt keine dieser drei Mittel dar. Die Familienpackung mit dem Lopedium, die ich in der Onkologie erhielt, ist inzwischen auch fast alle.

Im Moment erscheint mir, als müsste ich Winterruhe halten. Ich könnte nur noch schlafen. Nach dem Mittag muss ich mich wieder hinlegen, auch weil dann die Füße weh tun. Wenn ich mich nach kurzem Schlaf erhebe, habe ich Mühe in Gang zu kommen. Die Beine sind schwer wie Blei, und die Knie schmerzen. Die Hände sind dann wieder steif wie am Morgen nach dem Erwachen, und ich kann die Finger nicht krümmen. Ich brauche mehrere Versuche, bis ich wieder greifen kann. Meine steifen Finger ängstigen mich jedes Mal aufs neue. Im Augenblick komme ich mit den Folgen meiner Erkrankung nicht besonders gut klar. Der Psychologe in Plau hatte mir geraten Entspannungsübungen durchzuführen.

Ich hatte noch einen Bücherscheck und entschloss mich, den einzulösen. Die Buchhandlung in Demmin betrat ich wieder nach über 1 ½ Jahren. Inzwischen ist der Verkaufsraum verkleinert worden. Ich bestellte „Gesund bleiben nach Krebs“ von Josef Beuth und „Den Krebs abwehren – die Selbstheilung fördern“ von Dr. Christine Centurioni. Dr. Centurioni ist Psychoonkologin in einem österreichischen Krankenhaus. Ihr Buch enthält zwei Audio-CDs. Ich werde beide Bücher hier in diesem Blog besprechen.

Nach dem Besuch der Buchhandlung ging ich um die Ecke in den Dessousladen. Durch meine Krankheit bin ich von Oberweite 80B auf 75A degradiert worden. Es ist nicht einfach, für kleine Körbchengrößen die passende Unterwäsche zu ergattern. Aber hier hatte ich Glück. Ich probierte zuerst einen weißen BH. Der Verkäuferin hatte ich nur gesagt, dass ich so sehr abgenommen hätte. Auf ihre Frage, wie ich das denn gemacht hätte, sagte ich nur das Wort krank. Die Verkäuferin hatte daraufhin kein Interesse mehr zu erfahren und ich auch keins mehr zu erzählen. Im Gegensatz zu anderen Läden musste ich mir hier nichts über die Unterwäsche zerren, sondern konnte mit freiem Oberkörper richtig anprobieren. Der feine Strich meiner Narbe von der Leberoperation war deutlich zu sehen. Die Verkäuferin half mir beim Einstellen der Träger. Als nächstes zeigte sie mir ein BH-Hemd mit feinem, schwarzem Rosenstoff. Ich fühlte mich darin gut und kaufte das Ding spontan, obwohl ich niemand habe, vor dem ich in diesem Outfit herumhüpfen könnte. Ich würde auch reichlich bizarr aussehen, schwarzes BH-Hemd kombiniert mit Windelhosen und bandagierten Beinen.

Einkaufen ist aber ehr ein seltenes Vergnügen. Da das Fernsehprogramm mir wenig Interessantes bietet, lese ich wieder mehr. In Telepolis fand ich einen Artikel über Jörg Fauser. Was ich dort las, erschien mir so interessant, dass ich zur Hansebibliothek spazierte. Wie erwartet wurde ich dort nicht fündig, kein Fauser und auch kein Bukowski. Als Trost wählte ich 5 Kriminalhörspiele und Nick Hornbys "High Fidelity", gelesen von Gerd Köster. Außer den beiden Hörbüchern suchte ich mir "Die Tagebücher der Anaïs Nin 1955-1966" und eine Textsammlung von Roger Willemsen als Herausgeber und Kommentator aus. Weil ich es schon immer lesen wollte, nahm ich von Marguerite Duras noch das schmale Büchlein "Der Liebhaber" mit. Bei mir gibt es Liebe nur in Gedanken. Durch meine Krebserkrankung und ihre Folgen wird sich daran kaum etwas ändern.

Nussknacker, Räuchermänchen, Weihnachtskugeln und Jahresendfigur