Nordlichter
Kopf
Montag, 20. August 2007
Herumkrebsen
Mein Onkologe wollte am Donnerstag vor einer Woche nicht so recht Entwarnung geben. Wegen der erhöhten Werte beim Tumormarkertest verlangte er erneut Blut und zwar meins. Die Schwester hielt schon genüsslich die Kanüle bereit, um mich zu quälen. Worauf ich argwöhnte, mein Arzt wäre in seinem früheren Leben bestimmt Großinquisitor gewesen, was er vehement bestritt. Um die Ursache der hohen Werte zu finden, wäre ihm ein MRT oder PET am liebsten. Aber so was mag die Krankenkasse ja nicht gerne bezahlen. Die Schwester ging und brachte mein Blut ins Labor. Da mein Doktor frisch aus dem Urlaub gekommen war, hielt ich die Gelegenheit für günstig, ihm ein Gespräch aufzudrängen. Es hatte sich einiges angesammelt, was mir nicht passte. Bis jetzt sah es für mich keinesfalls so aus, als würde er meine Inkontinenz ernst nehmen. Das schien nur so, hat mir mein Arzt versichert. Sonst lässt er sich gewöhnlich immer von ein oder zwei Schwestern bewachen. Diesmal wartete die Schwester dann draußen vor der Tür. Wir haben bestimmt ½ Stunde allein miteinander geredet. Dass solch ein Gespräch nicht immer möglich ist, weil dazu wenig Zeit bleibt, weiß ich auch. Aber ab und zu ist es geboten. Ich war die erste Patientin in der Sprechstunde, als ich ging, war das Wartezimmer voll.

In der letzten Zeit habe ich viel gelesen. Das Buch, dass Krebs am anschaulichsten erklärt, ist ausgerechnet eins über Ernährung. Es heißt "Krebszellen mögen keine Himbeeren". Zugegeben, der Titel ist idiotisch. Er lässt eher einen Frauenroman wie "Schokolade zum Frühstück - Das Tagebuch der Bridget Jones" als eine seriöse Abhandlung vermuten. Ich hätte es deshalb beinahe nicht gekauft. Der Name des Originals ist schlicht: "Les aliments contre le cancer" also "Nahrungsmittel gegen Krebs". Die Autoren Prof. Dr. Richard Béliveau und Dr. Denis Gingras, zwei kanadische Ärzte, schrieben es 2005. Im Buch ist allgemein verständlich erläutert, wie Krebs entsteht, und was seine Schwachstellen sind.

Als Wurzel allen Übels haben die Autoren die Zelle ausgemacht. Krebs entwickelt sich, wie sie darlegen, in den drei Phasen: Initiation, Promotion und Progression. Bis jetzt hatte ich immer geglaubt Krebs wäre die Ausnahme, die einen zufällig trifft. Die beiden Ärzte berichten von einer pathologischen Studie bei Verstorbenen, deren Tod nicht durch Krebs verursacht worden war.
98 Prozent der Untersuchten wiesen in dieser Studie kleine Tumoren der Schilddrüse auf, 40 Prozent hatten Prostata- und 33 Prozent Brusttumore, während Tumoren dieser Organe normalerweise nur bei einem Bruchteil der Bevölkerung festgestellt werden ...
Klinisch diagnostiziert waren davon nur 1% in der Brust, 2% in der Prostata und 0,1% in der Schilddrüse. Die meisten dieser Mikrotumore bleiben also klein, weil das Immunsystem sie in Schach halten kann.
Man vermutet, dass diese Krebserkrankungen sich aufgrund einer Störung unserer natürlichen Abwehrsysteme gegen die Angiogenese entwickeln, die von den Tumoren in Gang gesetzt wird. Unter normalen Umständen gewinnen die antiangiogenetischen Abwehrmechanismen die Oberhand über die Versuche der Tumoren, die für ihr Wachstum lebenswichtige Blutversorgung herzustellen, und die Tumoren bleiben mikroskopisch klein. ...
Meinem geschwächten Immunsystem ist ein weiterer Feind durch die Lappen gegangen. Am letzten Donnerstag klingelte das Telefon. Da ich zu langsam war, sprang der Anrufbeantworter an. Ich drückte eine Taste und rief, "Hallo! Hallo!", ins Telefon. Eine Stimme fragte, ob ich es sei oder das technische Gerät. "Nein, ich bin nicht der Automat.", erklärte ich. Die Stimme gehörte meinem Onkologen. Das verhieß nichts Gutes. "Wir müssen reden.", sagte er. Ich erwiderte, dass ich schon wüsste, was das hieß, und mir ganz schlecht sei. Er meinte, das kann er verstehen, aber reden müssten wir trotzdem. Wir verabredeten uns für Freitagmittag. Mein Arzt hoffte, dass dann nicht ein neues Unwetter über Demmin hinwegzieht.

In der Nacht von Mittwoch auf den Donnerstag hatte ein Minitornado im Landkreis Demmin Bäume wie Streichhölzer umgeknickt. Besonders arg erwischte es das Dorf Trittelwitz. Der Sturm verteilte einen Dachstuhl aufs Feld und lädierte mehrere andere. In Trittelwitz sah es aus wie nach einem Bombenanschlag. Am schlimmsten waren jedoch die beiden Insassen eines Wohnwagens dran. Ein Blitz traf ihr Domizil und schleuderte es gegen eine Hauswand. Einer der beiden liegt jetzt in der Intensivstation des Kreiskrankenhauses Demmin. Die Kameraden der Feuerwehr hatte zwei Stunden gebraucht, ehe es ihnen gelang mit Motorsägen und schweren Gerät zu den Verunglückten vorzudringen. Hier in der Stadt hörte ich freitags und samstags die Motorsägen. Die Stadtwerke waren mit Aufräumen beschäftigt. Die Verwüstungen wurden nur im Regionalfernsehen gezeigt. Den Öffentlich-Rechtlichen waren sie keine Erwähnung wert. Wir sind halt nur die Provinz. Wenn wir hinweggeweht werden, interessiert das kein Aas!

Freitag zum vereinbarten Zeitpunkt meldete ich mich in der Notfallambulanz des Kreiskrankenhauses Demmin. Die Schwester sagte mir, meinem Arzt wäre etwas dazwischengekommen. Er war noch im OP. Ich setzte mich in die Cafeteria, die geschlossen hatte. Aus den Lautsprechern dröhnte das Programm des Regionalsenders. Ich versuchte ruhig zu atmen, was mir nicht besonders gut gelang. Nach einer Weile kam die Schwester. In der Notfallambulanz gibt es drei Sprechzimmer. Die Schwester führte mich ins hintere. Ich sah eine Untersuchungsliege und zwei sich gegenüberstehende Schreibtische mit Monitor und TFT-Bildschirm. Über dem Schreibtisch links hing ein Regal mit Büchern. In der obersten Reihe standen Aktenordner. Auf der rechten Seite der Wand waren gut gefüllte Ablagen angebracht. Ich setzte mich auf einen der zwei Besucherstühle. Der ganze Raum wirkte unpersönlich, kalt und steril, wie es Zimmer in Krankenhäusern nun einmal sind.

Mein Doktor, in grüner Kleidung, schaute ins Zimmer, und sagte er müsse noch einmal in den OP. Vor mir auf dem Schreibtisch lagen zwei Patientenakten. Die mir am nähsten war meine. Nach kurzer Zeit erschien mein Onkologe erneut, diesmal in gewohntem Weiß. Ich folgte ihm in eine winzige Kammer. Dort stand ein Kopierer sowie ein Tisch mit Flachbildschirm. Mein Arzt setzte sich vor den Tisch, während ich mich an den Kopierer lehnte und auf ihn herabschaute. Völlig neue Konstellation. Ich war daran gewöhnt, dass er in der Onkologie auf mich und die anderen Patienten dort mehrere Etagen über mir herunterlächelte.

Er zeigte am Bildschirm die unter 1 cm große Metastase in meinem rechten Lungenflügel. Dann erzählte er mir, was er alles unternommen hatte, nachdem der Tumormarkertest einen weit höheren Wert ergeben hatte als der letzte. Bei nochmaliger Durchsicht der Computertomographie war die Metastase dann entdeckt worden. Ich fragte meinen Doktor, warum die Radiologen sie nicht schon beim ersten Mal gefunden hatten. Ein Stellvertreter hätte die Metastase bei der ersten Ansicht übersehen. Der eigentliche Radiologe hat sie dann aufgespürt. Diese Metastase ist eine Hinterlassenschaft meines Darmkrebses, der nur auf einen günstigen Anlass lauert, um erneut zuzuschlagen. Auf mich wartet eine weitere Operation in der Uniklinik Greifswald. Die Narben der letzten sind noch nicht einmal richtig verheilt.

Mein Arzt verabschiedete sich freundlich von mir. Ich versuchte ein Lächeln, was völlig missriet. Mein Abgang aus der Notfallambulanz glich mehr einer Flucht. Bevor ich mich auf die Ausgangstür stürzte, entfuhr mir ein Schluchzen. Ich konnte es einfach nicht unterdrücken. Ich verließ das Krankenhaus auch gleich dort an der Notfallambulanz. Nur raus!

An der Kleinen Schillerstraße, die die hässlichste von allen Demminer Straßen ist, las mich eine Freundin auf. Sie kam gerade vom Einkaufen. Das macht sie mittlerweilen seit zwei Jahren, für mich einkaufen gehen. Sie fuhr mich und die Besorgungen, die sie erledigt hatte, nach Hause. Dort umärmelte sie mich und erklärte, ich solle sie anrufen, wann immer ich etwas brauche. Dann klingelte es, und Beate stand mit Tomaten und Kräutern vor der Tür. „Komm rein Rotkäppchen.“, sagte ich. Zusammen mit Beate fuhr ich zum Schwanenteich. Dort hatten gerade neue Discounter ihre Geschäfte eröffnet. Ein Bummel durch die Märkte versprach wenigstens ein wenig Ablenkung. Auch Beate umarmte mich beim Abschied. Auf ihre Hilfe und Unterstützung kann ich genauso zählen. Was wäre ich ohne meine Freundinnen?

Bei mir spielt also wieder täglich das Panikorchester. Das schlimmste an dieser Krebserkrankung ist die Angst. Aber ich muss nicht nur meine eigene sondern auch die der anderen und ihre Hilflosigkeit ertragen. Während der Strahlentherapie hatte ich mit Entspannungsübungen begonnen. Die ersten beiden nach dem Besuch beim Onkologen scheiterten natürlich. Inzwischen klappt es aber wieder, und es ist eine Erleichterung für mich. Angst und Entspannung sind zwei Zustände, die sich gegenseitig ausschließen. Es geht immer nur entweder oder. Heute bin ich auch wieder spazierengegangen. Meine Lieblingsroute führt durch die Tannen und dann die Bergstraße entlang. Auf das Grabmal am Jüdischen Friedhof habe ich das zweite Steinchen gelegt. Als ich die Begräbnisstätte verließ, lugte die Sonne hinter den Wolken hervor.

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